Wider den Revanchismus

Philipp Ther interpretiert die Vertreibungen von Polen und Deutschen nach dem 2. Weltkrieg neu – als Teil der europäischen Geschichte

Breslau oder Wrocław? Danzig oder Gdańsk? Landsberg oder Gorzow? Eine Debatte über die Souveränität des polnischen Staates kann man herausfordern oder sich des Revanchismus verdächtig machen, je nachdem welchen dieser Namen man in einer Diskussion wählt: Die „ehemaligen deutschen Ostgebiete“ sind ein politisch belastetes Thema und werden nicht zuletzt deshalb außerhalb der Vertriebenenlobby in Deutschland kaum erwähnt. Deutlich zeigt sich dies auch in der Wissenschaft: Der überwiegende Teil der Literatur ist von Vertriebenen für Vertriebene geschrieben. Philipp Ther hingegen setzt sich in seiner Dissertation „Deutsche und polnische Vertriebene“ über alle ideologischen Vorbehalte hinweg: Er löst sich von der Innenperspektive der Vertriebenen und schreibt für ein breites Publikum.

Ausgangspunkt seiner Studie sind die politischen Entscheidungen der Alliierten auf den Konferenzen von Jalta, Teheran und Potsdam 1944/45, wo die neuen Grenzen in Mittel- und Osteuropa gezogen wurden – denn diese Entscheidungen gingen den Vertreibungen voraus. Doch weit mehr als die politische Entwicklung interessiert ihn: Wie haben sich diese Beschlüsse auf die Betroffenen ausgewirkt? In einer überzeugenden Verbindung aus Politik- und Alltagsgeschichte berichtet er von den Menschen, die ihr Land unfreiwillig verließen und von denen, die es unfreiwillig wieder besiedelten. Die deutschen Bewohner der zukünftigen polnischen Westgebiete wurden in die vier alliierten Besatzungszonen transferiert und durch die polnischen Bewohner aus den zukünftig zur Sowjetunion gehörenden Gebieten im Osten ersetzt. Auf der Landkarte der Alliierten schien das einfach, in der Praxis bedeutete es für Deutsche wie Polen unermessliches Leid.

Philipp Ther untersucht im Hauptteil seiner Studie die Politik gegenüber den Vertriebenen in Polen und in der sowjetisch besetzten Zone (SBZ). Anhand von Fallstudien überprüft er die Wirksamkeit der Maßnahmen und stellt dabei gewaltige Diskrepanzen zwischen Absicht und Realisierung fest. So war es ein Ziel der polnischen Regierung, die neuen Westgebiete schnell und flächendeckend zu besiedeln. Aber die Umsiedler aus Zentralpolen und die Vertriebenen aus den Ostgebieten ließen sich nur zögernd in der Region nieder. Kein Wunder, denn die leer stehenden Häuser waren nach Krieg und Plünderung in einem desolaten Zustand. Zudem stammten die neuen Bewohner aus dem Osten von kleinen Höfen, waren andere Böden und Anbaumethoden gewöhnt. Die technisierte Landwirtschaft der großen ostelbischen Güter blieb ihnen lange fremd. Hinzu kam: Gerade erst hatten sie am eigenen Leib erfahren, dass Grenzen und Bevölkerungen verschiebbar sind. Woher sollten sie die Gewissheit nehmen, dass die ehemaligen deutschen Ostgebiete nun polnisch bleiben würden?

Auch die vertriebenen deutschen Bewohner konnten und wollten nicht glauben, dass das Land jenseits der Oder, ihre Häuser, Felder und Betriebe nun nicht mehr in Deutschland sein sollten. Die Flüchtlingsbehörden der SBZ und des polnischen Staates bemühten sich, diese „revanchistischen“ Ideen durch eine gezielte Flüchtlingspolitik zu zerstreuen. Vor allem in der SBZ bemühte man sich, die oft kranken, verarmten und traumatisierten Ankömmlinge unterzubringen und zu versorgen: In manchen Gebieten machten die Vertriebenen über 30 Prozent der Gesamtbevölkerung aus – und das in einem vom Krieg zerstörten Land.

Es gehört seit damals zu den Gründungsmythen der DDR, dass die so genannten Umsiedler durch die Bodenreform den einheimischen Bewohnern gleichgestellt wurden und umgehend zu angesehenen Bürgern der neuen, sozialistischen Gesellschaft wurden. Philipp Ther wirft einen Blick hinter die Propagandafassade und stellt fest, dass die neue Ideologie sich selbst Fußangeln legte. So hatte die Regierung beschlossen, für die Neubauern, unter denen viele Vertriebene waren, auf den durch die Bodenreform gewonnenen Hofstellen Häuser zu bauen. Allerdings war das Baumaterial knapp. Entsprechend der Parole „Junkerland in Bauernhand“ sollten daher Gutshäuser abgerissen und die Steine für die Siedlerhäuser verwendet werden. Die Sache hatte nur einen Haken: In diesen Gutshäusern waren bereits Vertriebene untergebracht. Das Neubauprogramm kam so bald zum Erliegen.

Bilanzierend stellt Ther allerdings heraus, dass in der SBZ den Vertriebenen schnell und nachhaltig geholfen wurde, da in die Rechte der Einheimischen stärker eingegriffen wurde, als es unter rechtsstaatlichen Bedingungen möglich gewesen wäre. In den westlichen Besatzungszonen waren die Behörden sehr viel zurückhaltender, wenn es etwa um die Beschlagnahme von Wohnraum ging. Erst nach Gründung der Bundesrepublik verbesserte sich hier die Situation der Vertriebenen, als sie sich in eigenen Verbänden und Parteien organisierten und ihre Interessen vertraten. Seitdem aber dominieren die Vertriebenenverbände die öffentliche Diskussion über das Land jenseits von Oder und Neiße – unbeeindruckt davon, dass seit Jahren nur noch ein verschwindend kleiner Teil der Nachkommen von Vertriebenen ihre oft revanchistischen Forderungen unterstützt.

In der DDR hingegen wurde seit der Staatsgründung das „Umsiedlerproblem“ als gelöst angesehen. Im Görlitzer Vertrag schrieb man 1950 schon die Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnische Friedensgrenze fest und verbot damit jedes weitere Erinnern an die ehemaligen Ostgebiete. Wie in der Besatzungszeit war es den Vertriebenen nicht erlaubt, Vereine zu gründen, selbst kleine Freundeskreise wurden von der Polizei bespitzelt und verfolgt. Philipp Ther gelingt es, einen neuen Anknüpfungspunkt für die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Vertriebenen zu finden: Indem er die Vertreibungen in ihren politischen Kontext einbindet, sind sie nicht länger ein deutsches Schicksal, sondern ein europäisches Phänomen. Ther eröffnet eine (längst überfällige) öffentliche Diskussion, in der die Geschichte der Bewohner der „neuen polnischen Westgebiete“ gleichberechtigt neben der der „ehemaligen deutschen Ostgebiete“ steht. SABINE VOGEL

Philipp Ther: „Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945 – 1956“. Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen, 1999, 74 DM