Trainspotting in Berlin

Eine Kurzgeschichte von WLADIMIR KAMINER

Unser Hauptmeditationsobjekt gibt es nicht mehr: den Zugverkehr vor dem Fenster. Seit einem Monat wird die U-Bahn-Linie 2 repariert. Früher konnte ich mich von meinem Balkon aus fast mit den Zugführern unterhalten. Sie hupten mir jedesmal freundlich zu, wenn sie an unserem Haus vorbeifuhren, und ich hupte zurück – so gut ich konnte. Alle Zugführer hatten einen Koffer bei sich, den sie zwischen ihren Beinen auf den Boden der Fahrerkabine abstellten. „Was ist in dem Koffer drin?“, fragten meine Frau und ich jedes Mal. „Schmalzstullen, von den Ehefrauen der Zugführer zubereitet“, meinte Olga. Ich dagegen war der Meinung, dass sich in dem Koffer Ersatzschuhe und der gerade aktuelle Fahrplan befanden. Letzteres, damit die Zugführer immer nachschauen können, ob sie noch auf dem richtigen Gleis sind. Vielleicht lagen wir aber beide mit unseren Vermutungen falsch. Gerade als wir nachfragen wollten, wurde die Linie U 2 plötzlich eingestellt. Nun lief eine ganz andere Show vor unserem Balkon: Eine Bauarbeiterbrigade ging pünktlich alle 20 Minuten die Gleise entlang – an unserem Haus vorbei.

Die vier Menschen bewegten sich im gleichen Rhythmus – in Richtung Ruhleben: Ein großer Dünner schob eine Draisine vor sich her, ein Dicker trug einen riesigen Hammer auf den Schultern, ein Kleiner mit Mütze hatte ein Brecheisen in der Hand, ein Blonder mit einer Büchse Bier beschloss den Zug. Exakt 20 Minuten später sah man das Quartett dann wieder von unserem Balkon aus. Diesmal ging es in Richtung Vinetastraße: Vorn war nun der Blonde mit dem Bier, dann kam der Kerl mit dem Brecheisen und der Alte mit dem Hammer und schließlich der große Dünne, der seine Draisine hinter sich herzog.

„Die haben sich bestimmt verlaufen?“, mutmaßten wir anfänglich. Nach drei Tagen allerdings nicht mehr. Der Bauarbeiterzug wurde zu einer neuen Sehenswürdigkeit unseres Hauses. Früher hatten wir jedes Mal, wenn Besuch kam, den Gästen stolz die vor unserer Nase fahrende U-Bahn gezeigt. Und sie waren immer begeistert. Jetzt zeigten wir ihnen die Bauarbeiterbrigade. „Gleich kommen sie wieder, in zwölf Minuten!“, erklärte meine Frau aufgeregt den Verlauf der Attraktion.

Wir überlegten schon, ob wir nicht Futter auslegen sollten, aber dann kam der Tag, an dem die Brigade nicht mehr auftauchte. Irgendwo auf der Strecke nach Ruhleben war sie für immer stecken geblieben. Wir vermissen sie sehr. Nun bewegt sich gar nichts mehr auf den Gleisen vor unserem Haus, außer ein paar dicken BVG-Tauben. „Eigentlich solltet ihr euch freuen, ein paar Monate ohne Krach zu leben. Genießt die Ruhe!“, riet meine Mutter.

Sie weiß nicht, dass die U-Bahn das leiseste Transportmittel ist und viel weniger Krach als die Straßenbahn oder die Autos macht, ganz zu schweigen von unserem Nachbarn – der Musiker ist. Er bereitet sich auf eine große musikalische Karriere vor und übt jeden Tag, zusammen mit seiner Familie. So fleißig wie sie sind, werden ihnen bestimmt bald die ersten drei Plätze auf der Hitparade gehören. Außerdem besteht die Familie aus echten Multitalenten, denn sie können alle Instrumente spielen. Seit über einem Jahr hören wir nun schon ihre Musik und konnten dabei verfolgen, wie die musikalischen Interessen sich da oben wandelten – vom Schlagzeug zur Gitarre, von der Klarinette zum Saxophon usw. . . .

Sie experimentieren wahrscheinlich auch mit den verschiedenen Musikstilen, aber zu uns nach unten kommen diese Klänge leider immer in ein und derselben Form: als eine Art gepupster Punkrock. Oft kommen Kollegen zu unserer Schönhauser Kelly-Familie und tauschen Musikerfahrungen aus. Dann gibt es eine Jam-Session. Gestern hing ein Zettel im Hausflur: „Hallo, Nachbarn! Heute haben meine Frau und mein Sohn Geburtstag. Ein paar Jungs kommen, um ihnen zu gratulieren. Also, wenn es etwas lauter wird als sonst, nicht gleich die Polizei rufen, einfach bei uns Bescheid sagen. Ihr Luchiano.“

Die Bedenken von Luchiano sind nicht ohne Grund. Beim letzten „Geburtstag“, der ein paar Tage zuvor stattfand, besuchten die Beamten seine Wohnung – jemand hatte sie gerufen. Die Szene konnten wir zwar nicht optisch verfolgen, aber allein vom Hören war sie schon beeindruckend. „Hier spricht die Polizei, machen sie die Tür auf“ – zuerst dachte ich, die Nachbarn hätten mit der Musik Schluss gemacht und guckten sich stattdessen einen „Tatort“-Krimi an. Gleich danach kam es aber zur einer regelrechten Musikeraustreibung: Die Polizisten trampelten in Kolonne durch das ganze Haus – dreimal hoch und runter: Dieses besondere Geräusch kann doch kein Fernseher der Welt nachmachen. Um fünf herrschte jedoch wie immer in unserem kleinen Mietshaus absolute Stille.