Ondaatje über Knochen- und Sedimentsuche

Anil Tissera ist eine Spezialis-tin für Spuren, die sich an den Knochen eines Menschen finden lassen. Als Mitarbeiterin einer Genfer Menschenrechtsorganisation kehrt sie nach langen Jahren im Ausland in ihr Geburtsland Sri Lanka zurück, um dort Beweise dafür zu finden, dass auch die Regierung in den Jahren des Bürgerkriegs an politisch motivierten Morden beteiligt war. Gemeinsam mit dem Archäologen Sarath stößt sie in einer alten Grabkammer auf ein männliches Skelett jüngeren Datums. Frakturen und Brandspuren weisen auf einen Mord hin, und Sedimentrückstände von Erde und Pollen am Leichnam lassen darauf schließen, dass er schon woanders begraben war, bevor er in die Grabkammer geschafft wurde, in ein Gebiet, das von der Regierung kontrolliert wird.

Was sich anhört wie ein politischer Thriller, wird unter der Federführung von Michael Ondaatje zur Meditation über die Möglichkeiten persönlicher Erinnerung und Wahrheit überhaupt.

Der Schriftsteller holländisch-tamilisch-singhalesischer Abstammung kehrt mit seinem neuen Roman genau wie seine Heldin in sein Geburtsland zurück, um dort verblassenden Spuren eines grausamen Bürgerkriegs nachzugehen. Doch ähnlich wie in seinem Welterfolg Der englische Patient interessiert sich Ondaatje eher für seine Figuren und ihre Motivationen als für historische Fakten. Die Suche nach der Identität des „Seemanns“, wie Anil das Skelett nennt, macht zunehmend einer Erkundung von Seelenlandschaften Platz.

Ondaatje ist ein Meister darin, ihre Beziehungen und Stimmungen in ihren Gesten und den Handreichungen offen zu legen. In den Berührungen, mit denen Anil und Sarath die Spuren am Skelett entziffern, in der körperlichen Fürsorge, die Saraths Bruder Gamini den Opfern des Bürgerkriegs angedeihen lässt, macht Ondaatje eine Erinnerungsarbeit spürbar, der jede Form historischer oder narrativer Abschließbarkeit fremd ist. Vergleichbar ist dieses Verfahren mit der Arbeit eines Archäologen, der Sedimentschichten freilegt. Aus deren Spuren komponiert Ondaatje Vergangenheitsbilder von großer Komplexität. So bleibt ein Thriller auf der Strecke, um den Blick frei zu geben auf einen atemberaubenden Bilderreigen.

Volker Hummel

Michael Ondaatje, „Anils Geist“, Hanser, München 2000, 324 Seiten, 39,80 Mark. Lesung von Michael Ondaatje, heute um 20 Uhr – aber nicht, wie gestern irrtümlich angekündigt, im Literaturhaus, sondern im Curio-Haus, Rothenbaumchaussee 11