Selbstzerfleischungen

■ Mehr als nur Yakuza: Zweimal Takashi Miike auf dem Filmfest

Er ist der Härteste unter den Harten, der Wildeste unter den Wilden, der Gehypteste unter den Gehypten, und der Produktivste im Land der unbändig Produzierenden: Takashi Miike, das Wunderkind des japanischen Kinos der letzten fünf Jahre, einer Zeit, in der er dreizehn Kinofilme plus elf Direct to Video-Produktionen plus ein Fernsehspiel inszeniert hat. Während auf dem Filmfestival von Toronto sein bislang letztes Werk, Hyoryugai/Drifting Town, seine internationale Premiere feiert, präsentiert das Filmfest Hamburg zwei Werke Miikes aus dem letzten Jahr: die vielfach ausgezeichnete Literatur-adaption Audition sowie die völlig wahnwitzige Sozialsatire Dead or Alive. Hanzaisha. Zu entdecken ist ein Kino der Selbstzerfleischung.

Der bessere, in vieler Hinsicht jedoch auch schwerer erträgliche Film von beiden ist eindeutig Audition. Der gleichnamige Roman des Autors und Filmemachers Ryu Murakami erwuchs aus einer albtraumhaften Beziehung: mit der Hauptdarstellerin seines Meisterwerks Tokyo Decadence (Topaz). So beginnt Audition denn auch wie ein freundlich-romantischer Liebesfilm — und entwickelt sich nach etwa zwei Dritteln seiner Laufzeit zu einem unvorstellbar brutalen Horrorthriller, in dem unter anderem ein schwer verstümmelter Ex-Liebhaber von einer Frau in einem fest verschnürten Sack gehalten und nur mit frischer Kotze ernährt wird, in dem Köpfe und Füße mit Sägedraht abgeschnitten werden und man Männern Akkupunkturnadeln unter die Augen rammt. Nach einem klaren, manchmal fast schon langweiligen Anfang – wen interessiert das Glück der Anderen? – wendet sich der Film gegen seinen Helden wie gegen seine Zuschauer: plötzlich ist nicht mehr klar, was Realität, was Wunsch-, was Albtraum ist. In einer langen Montagesequenz vermischen sich die Ebenen, die auktoriale Perspektive verschwindet, alles ist möglich; ein Selbstmord des Autors? Mindestens.

Der vielleicht furchtbarste Moment kommt, wenn man nach einer besonders ekelhaften Folterszene glaubt, das alles sei bloß der Angsttraum eines Mannes in der Midlife-Crisis gewesen — und dann ist diese genre-genuine Szene – erwacht im Bett und alles ist gut – realiter der Traum eines vor Schmerzen halb Wahnsinnigen.

Auf ähnliche Weise funktioniert auch Dead or Alive (Hanzaisha), Miikes bislang formal wohl experimentellstes Werk: eine Studie in Zerstückelung und narrativer Retardierung. Dieser Bastard-Bruder von Pasolinis Die 120 Tage von Sodom aus dem Jahr 1975 beginnt mit einer Übung in reiner Bewegung, die primär dazu gedacht ist, einen auf die kommenden Momente der Verstörung vorzubereiten. So wird beispielsweise ein Mann erschossen, und man kann sich genau anschauen, was er als letztes gegessen hat: aus seinem Bauch spritzt Nudelsuppe.

Die 08/15-Genre-Plotte von Handlung (Bulle legt sich mit Yakuza an: Eskalation, Exekution, Exitus) spult Miike mit stoischer Verachtung ab. Ihn interessieren allein die Zwischenräume, in denen er seine Meditationen über moralische Degeneration und gesellschaftliche Widermenschlichkeit ausbreiten kann: ein Adrenalin- Junkie spielt so lange Russisch Roulette, bis er endlich eine Kugel findet; ein Yakuza ersäuft eine Junkie-Nutte in einem Gummiplanschbecken voll wässriger Scheiße. Das Ganze endet konsequenterweise mit dem Weltuntergang, zum einen, weil beim ersten Aufeinandertreffen der beiden aktuellen Superstars des Yakuza-Genres, Sho Aikawa und Riki Takeuchi, einfach keiner gewinnen kann – der eine zieht sich eine Bazooka aus dem Rückgrat, der andere eine magische Kugel aus dem Bauch –, zum anderen, weil eine Welt den Fortbestand nicht verdient hat, in der solche Dinge möglich sind. Miike ist vieles – Realist, Satiriker, Schweinehund –, nur eins nicht: ein verblendeter Optimist.

Olaf Möller

Audition: heute, 22.30 Uhr, Abaton + Sonntag, 19.30, Zeise; Dead or Alive: Sonnabend, 21.30 Uhr, Zeise