Die Spiele, die Passionen weckten

Oberammergau am Ende: Am Sonntag ist letzter Spieltag, dann ist zehn Jahre Ruhe und die Friseure haben wieder Arbeit. Die Haare werden auf bayerische Normallänge zurückgestutzt, der seelische und materielle Gewinn gezählt. Eine Würdigung

von MICHAEL WÜRFEL

Gut gelaunt waren die Einwohner von Oberammergau in diesem Sommer. Nicht nur schien die Sonne im September auf die bewaldeten Berge und das Flüsschen Ammer, auf die gediegenen Bauernhäuser und die idyllischen Seitentäler. Auch hatten sich die Oberammergauer in diesem Jahr bekanntlich eine besondere Energiequelle nutzbar gemacht.

Denn täglich außer dienstags und donnerstags strömte ein gleichmäßiger Fluss von zahlungskräftigen Besuchern in die Gemeinde – Publikum der Passionsspiele, in denen ganztägig der Leidensweg Jesu Christi in seinen letzten Stunden dargestellt wurde, wie es seit 1634 etwa alle zehn Jahre und an diesem Sonntag zum letzten Mal in diesem Jahrzehnt hier gemacht wird. Und weil die begehrten Karten nur im Paket mit mindestens einer Übernachtung verkauft wurden, lohnte es sich für die Einheimischen, sich vorübergehend auf die vergängliche Flut einzurichten.

Wer zum Beispiel eine leere Wohnung sein Eigen nannte, hat sie womöglich schon seit Jahren nicht mehr vermietet, um jetzt als Ferienwohnung richtig damit zu verdienen. Werkstätten wurden ausgebaut, Familien zogen gesammelt in den Keller, um die schönen Zimmer vom rührigen Fremdenverkehrsamt vermieten zu lassen. Nicht, dass man es hier nötig hätte – der Ort ist auch in festspiellosen Zeiten beliebt bei Touristen aus aller Welt – aber wenn ein Zimmer bis zu 200 Mark pro Nacht einbringt, und das über 100 Nächte lang, dann kann ein Sommer im Keller die Familienfinanzen auf Jahre hinaus sanieren. Vielleicht reicht es zu einem neuen Haus, das dann in zehn Jahren komplett, samt Keller, vermietet werden kann.

Was ließ sich noch „anpassen“? Die Preise für Eis und Getränke, die Ladenöffnungszeiten. Die meisten Läden hatten hier plötzlich bis 22 Uhr, ein Supermarkt auch Sonntags auf – Sondergenehmigung. Die Schulferien sind eine Woche früher zu Ende gegangen, die Herbstferien sind dafür länger, damit auch beim Spiel mitwirkende Eltern Gelegenheit haben, mit den Kindern (die nächste Passionsspielgeneration!) in Urlaub zu fahren.

Das alles muss dem Gemeindeleben nicht schaden, auch wenn so mancher Bergbauer jetzt in dunkler Nacht mähte, um tagsüber auf der Bühne zu stehen. Das brummende Geschäft bescherte bezahlte Arbeit. Die Stimmung war weiterhin freundlich, auch wenn so mancher den 8. Oktober herbeigesehnt haben mag, nachdem mit einer Riesenfete der Alltag wieder im Ort begrüßt wird – davor war halt „Die Passion“ der Alltag, und schließlich kennt man das alles, wenn man schon letztes Mal dabei war. Man macht das Beste draus.

So hat der Sohn und Teilhaber des örtlichen Busunternehmers, der einen Teil der Shuttlebusse vom Ortskern zum Parkplatz bereitstellt, die Shuttlebusparties erfunden. Noch während die letzten Gäste zum Parkplatz gefahren werden wollen, steigt Jungvolk zu und beginnt mit der Feier, die sich mobil durch die ganze Nacht zieht. Geht das Bier aus, wird an einer Tankstelle oder einer Kneipe gehalten.

Oder Johannes: Der stellte sich täglich mit einer Thermos-kanne zu den Unerschrockenen, die sich in der Morgendämmerung für eine Tageskarte aus dem winzigen Kontingent anstellten – im Prinzip waren jeweils alle 4.700 Plätze für jeden der Spieltage ausverkauft. Er verkaufte Kaffee für zwei Mark den Becher, dann hatte er für eine halbe Stunde Arbeit dreißig Mark verdient und ging wieder nach Hause. Das Geschäft hätte man ausbauen können, aber dann hätte Johannes auch mehr Arbeit gehabt und dreißig Mark reichten ihm eigentlich. Johannes fängt in diesem Herbst neu an der Oberammergauer Holzbildhauerschule an und gehört damit zu der Hand voll junger Leute, die das Gesicht des Ortes auch außerhalb der Saison bunter machen. Alles Künstler ohne Geld, die freilich dieses Jahr nicht weiter auffielen: Vor zwei Jahren schon wurden die Oberammergauer aufgerufen, sich das Haupthaar – Männer auch das Barthaar – wachsen zu lassen. Im Jahre Null gab es noch keine Friseure. Und ob der langen Haare schien das ganze Dorf wie eine alte Hippiekommune, jeder Busfahrer und Postbeamte sah aus wie ein friedlicher Kiffer.

An diesem Sonntag um 9.30 Uhr verkünden die Trompeten zum letzten Mal, dass das Spiel beginnt. Hoch gelobt von Feuilletons, politisch korrekt und künstlerisch wertvoll – gar ein Wunder – sollen sie sein. Es gibt doppelte Besetzungen der Rollen, pro Spiel 1.000 Mitwirkende. Alles Oberammergauer. Man muss sich bloß mal vorstellen, was das für das Selbstbewusstsein tut – ein stolzes Dorf. Filmaufnahmen sind verboten, an den Spieltagen herrscht Flugverbot über dem Ort. Auch am Boden herrscht Ruhe, freundliche PolizistInnen bewachen die Zufahrt und lassen kein Auto durch.

Gerüchteweise sank die Qualität des Spiels mit den Wochen, und eventuell unter den SpielerInnen wachsende Langeweile wurde mit derben kleinen Scherzen vertrieben, die das Publikum nicht mitbekam oder höchstens irritierte. Wurde dem Christus wirklich einmal ein (handgeschnitzter) Holzschniedel aus dem Lendenschurz hängen gelassen, als er am Kreuz aufgerichtet wurde? Die letzte Vorstellung – wird da überhaupt noch nach Drehbuch gespielt werden?

Die Besucher jedenfalls sitzen mit gemieteter Decke und gemietetem Fernglas im offenen Festspielhaus in der Mitte des Ortes und sind begeistert, bis sich um zwölf die Tore wieder öffnen und wüstes Getummel auf der Ortsstraße, in den Restaurants und in den Souvenirläden einsetzt – glücklicherweise besteht der Oberammergauer Einzelhandel sowieso aus Schnitzkunstläden, da verteilt sich das. Jetzt und in den Abendstunden wird Umsatz eingefahren. Schnitzwerk sowie Porzellanpuppen, Kuckucksuhren, Trachtenjacke – dreistellige Dollarbeträge sind eher üblich und werden mit Kreditkarte beglichen, der Versand ins Heimatland gehört zum Service.

Am Ende sind alle zufrieden. Alle? Da war noch der tiefgläubige junge Amerikaner, der mit dem Mountainbike kam – aber zu früh. Sein Arrangement zum Festspielbesuch galt erst einen Monat später, und weil er hauptsächlich dafür nach Europa gekommen war, versuchte er, die Türsteher zu einer Ausnahme zu bewegen und ihn doch jetzt schon reinzulassen. Vergeblich. Schicksalsergeben gab er seine Karten einem der Wächter, nahm ihm das Versprechen ab, die Karte zu verschenken und nicht zu verkaufen und fuhr ab gen Flughafen Frankfurt. Ob er enttäuscht sei, die Spiele nicht gesehen zu haben, wurde er gefragt. Nicht sehr, antwortete er. Er kenne ja das Buch.