Eine Planung findet nicht statt

Trotz Kunst- und Immobilienkrise: Im Herzen des neuen Büroviertels um die Leipzigerstraße füllt Thorsten Streichardt einen leer stehenden Laden mit ausgemusterten Büromöbeln, die er zum „Wald in progress“ umarbeitet. Am Ende hilft nur die BSR

von YVES ROSSET

Im Wald wimmelt es von Geräuschen. Die Blätter rauschen, am Boden liegende Äste knacken unter den Füßen des Spaziergängers, die Vögel singen, die Elfen summen geheimnisvolle Melodien. Auch im „Wald in progress“, so der Titel des Kunstprojekts, das Thorsten Streichardt in dem Ladenlokal der Charlottenstraße 18 betreibt, hört man Geräusche.

Meistens ertönen unermüdliche Schläge eines Holzhammers. Oder es ist Papier, das zerrissen wird, oder das leise Quietschen von Textmarkern. Dazwischen glucksen und zischen Kaffeemaschinen in regelmäßigem Abstand oder es ist ein Handy, das piept. Eine Tonkulisse aus Bau- und Bürogeräuschen, die sich zur Umgebung mimetisch verhält: Draußen, um das „Quartier Schützenstraße“ herum, ist ja ein ganzes Büroviertel in progress.

Auch optisch passt sich Streichardts „Wald in progress“ der Umgebung an. Wie bei einem Büromöbelgeschäft sind Schränke, Regale und Tische durch die großen Glasfenster zu sehen. Nur dass die Möbel nicht richtig modern wirken, sondern aus furnierten Spanplatten bestehen und vom Gebrauchtwarenhaus der BSR geliefert wurden. Streichardts Ambiente erinnert eher an die triste Büroatmosphäre des vergangenen Jahrhunderts.

Die abwaschbaren beigen, braunen oder schwarzen Oberflächen sind mit Spuren übersät. Sie stammen von der halbmondförmigen Klinge des Beitels, mit dem Streichardt die Platten bearbeitet. Vor seinem Kunststudium in Kassel hat Streichardt eine Lehre als Steinmetz abgeschlossen und verdient heute noch einen Teil seines Lebensunterhalts mit dem Meißeln von Grabschriften. Die Zeichen, die Streichardts Möbel im „Wald in progress“ tragen, ähneln eher Becherpilzen oder Spuren anderer unheimlicher Holzschädlinge. Die Eingriffe beschränken sich nicht nur auf die Produktion organisch wirkender Ornamente. Vom Spaß am Kaputtmachen oder wandelnden Stimmungen sind auch dicke Löcher übriggeblieben, als ob da ein Büromensch seine Wut nicht mehr hätte zügeln können und endlich zur Tat geschritten wäre.

Der fröhlich anarchistische, teils minimalistische Gestus setzt sich fort, indem Streichardt die verarbeiteten Möbelteile – zusammen mit Dutzenden von Kaffeemaschinen – zu einer grotesken, immer weiter wuchernden Anhäufung zusammenbringt. Plastisch wirkt das skulpturartige Gebilde wie eine Verlängerung von Olaf Metzels zerstörtem Basketballfeld „102:104“, oder wie „Die Große Tischruine“ von Dieter Roth.

Seit Anfang September arbeitet Streichardt an seinem Projekt. Wie es zum Schluss aussehen wird, weiß der Künstler noch nicht so genau. Getreu seinem Motto „lieber organisch als organisatorisch“ soll der „Wald in progess“ so weit wachsen, wie es die 130 Quadratmeter des Ladens erlauben. Trotz des Titels hat Streichardts Arbeit weder mit greenpeaceartiger Rhetorik noch mit dem Pathos des beuysschen Eichenaktionismus etwas gemeinsam. In bester Tradition der Trashästhetik arbeitet Streichardt im strikten dreiteiligen Anzug als Büroangestellter getarnt fünf Tage die Woche von 9 bis 17 Uhr. Zwischen 13 und 14 Uhr ist wegen Mittagspause geschlossen. Was am Ende des Wachstumsprozesses passieren soll, ist unklar. Nur die BSR wird Streichardts Projekt weiterhin unterstützen: Entweder verschwindet der Wald auf dem Müll oder er wird wieder im Gebrauchtwarenhaus der BSR gelagert.

Bis 27. 10., Mo–Fr 9–13 und 14–17 Uhr; Charlottenstr.18/Ecke Schützenstraße