Von der Logik der Macht

Kinder werfen Steine auf Soldaten, die Friedensbewegte fordert den Kampf, der Scheich warnt vor Angriffen der Hamas

aus Gaza-Stadt SUSANNE KNAUL

Ein Sicherheitsrisiko ist dieser Palästinenser offenbar nicht. Barfuß in Plastiksandalen schiebt er gelangweilt mit seinem Besen ein paar Zigarettenkippen zur Seite. Keiner achtet auf ihn. Am Grenzkontrollpunkt Eres ist in diesen Tagen kaum Betrieb. Im so genannten VIP-Büro, in dem sich jeder, der kein palästinensischer Arbeiter ist, melden muss, wenn er in den Gaza-Streifen reisen will, sitzen israelische Soldaten vor ihren Computern und warten auf Kundschaft. Eben kam ein Fernsehteam aus Portugal durch. Zwei junge Frauen mit Fotokameras, kugelsicheren Westen und Helmen kramen ihre Ausweise an den Taschen. In großen Buchstaben steht das Wort „Presse“ auf dem Rücken ihrer Westen. Dass es nur kein Missverständnis gibt. Wir sind nicht Teil des Konfliktes, wir berichten nur darüber.

Der große Platz vor dem VIP-Büro lässt Assoziationen an die DDR aufkommen. Jeder Wagen, der den Gaza-Streifen verlässt, muss über eine Grube fahren, um auch von unten kontrolliert werden zu können. Handgepäck wird durchleuchtet. Auf der anderen Seiten des Platzes, der von Mauern und zum Teil mit Stacheldraht begrenzt wird, trainiert eine Gruppe von Soldaten. Sprinten, fallen lassen, sprinten, fallen lassen. 20 Meter hin, 20 Meter zurück. Der Boden staubt. Jetzt kommen doch noch vier palästinensische Arbeiter, die zu den einigen tausend Glücklichen gehören, die trotz der allgemeinen Sperre nach Israel fahren dürfen. Sie werden von zwei Soldaten bis hinter den Grenzübergang eskortiert.

Auf der anderen Seite ist die Abfertigung deutlich unkomplizierter. „Ahalan u Sahalan“ („Willkommen“) ruft der palästinensische Polizist und gibt Zeichen zur Weiterfahrt.

Unmittelbar hinter der Grenze fliegen Steine. Einige hundert Kinder und Jugendliche greifen aus sicherer Entfernung israelische Soldaten an, die mehrere Arbeitshallen aus Wellblech bewachen. Seit Wochen wird hier kaum noch produziert. Die Palästinenser, die trotz der Unruhen arbeiten gehen wollten, wurden von ihren Landsleuten daran gehindert. Die Anlage zur Textilverarbeitung war Teil des Osloer Abkommens. Insgesamt sieben solcher Industrieparks sollten im Grenzgebiet genügend Arbeitsplätze für die Palästinenser schaffen, die bislang im israelischen Kernland ihren Lebensunterhalt verdienten.

Die Kinder sind ohne Angst. Noch ist vormittag. Ernst wird es immer erst gegen Abend. Sie laufen mit Stöcken in der Hand und Drohgebärde auf die vorbeifahrenden Journalisten zu. Die Fernsehberichte über den Lynchmord in Ramallah in der vorvergangenen Woche haben dem Bild der Palästinenser in der Welt Schaden zugefügt. Seither sind Journalisten nicht mehr erwünscht.

Bis zur Stadt Gaza sind es vom Kontrollpunkt aus gut 15 Minuten. Der Weg führt vorbei am Flüchtlingslager Jabalia, wo Ende der 80er-Jahre die Intifada begann. Ein riesiges Häusermeer, eines der größten Lager in den Palästinensergebieten. Viele der Wohnungen befinden sich seit Jahren im Bau. In wirklich gutem Zustand ist nur die Hauptstraße, die nach dem Osloer Akommen 1993 neu gepflastert wurde. Die dunkelgelben Taxis rasen darauf geschickt an Pferdewagen vorbei, auf denen die Bauern ihre Waren transportieren.

Viele Läden in Gaza-Stadt sind geschlossen. Nur in einem sauber gekachelten Kaffeehaus sitzen ein paar Männer zusammen, gleich daneben bereitet sich ein Falaffelbäcker auf die Kundschaft am Mittag vor. Zu beiden Seiten der Haupstraßen der Stadt liegen hohe, zum Teil ganz neue Wohn- und Bürogebäude. Von der Armut im Gaza-Streifen ist in der Stadt selbst wenig zu spüren. In einem lang gezogenen Park, an dessen Ende der für arabische Verhältnisse eher spartanische Präsidentenpalast liegt, lässt sich eine Gruppe verschleierter Schulmädchen, die alle blaue Uniformen tragen, am Denkmal des unbekannten Soldaten fotografieren.

„Es ist, als würden wir aus einem Traum aufwachen. Wir dachten, dass wir mit Oslo das Maximum der Möglichkeiten erreicht hätten, aber eigentlich ist es gar nichts“, sagt Raida Ageel (30). Mit Anfang 20, noch während der Intifada, studierte die Palästinenserin an einer israelischen Sprachschule Hebräisch, um es später ihren Landsleuten beibringen zu können. Ihrer Familie, die seit 1948 in dem Flüchtlingslager von Khan Younis im Süden des Gaza-Streifens lebt, galt Raida mit ihrem Wunsch nach Frieden fast als radikale Linke.

Die gesamte Familie – Raida eingeschlossen – ist streng religiös. Ein Onkel lehrt sogar an der islamischen Universität, die von der fundamentalistischen Hamas finanziert wird. Wie die meisten Frauen trägt Raida einen Schleier, der nur ihr schmales Gesicht unverdeckt lässt. Die Jeans sind von einem Mantel bis über die Knie verdeckt.

Von Frieden spricht Raida seit ein paar Wochen nicht mehr. Ihre Stelle im Sprachzentrum in Gaza hat sie gekündigt. „Ich kann nicht länger Hebräisch unterrichten“, sagt sie. „Die Idee von der Koexistenz ist ein Witz.“

Mit ihrem Mann Hani und zwei kleinen Kindern zog Raida Anfang des Jahres in ein neues Hochhaus unmittelbar neben der jüdischen Siedlung Netzarim, wo es in den vergangenen Wochen zu den schlimmsten Zwischenfällen kam. In 12 Jahren wollen Raida und ihr Mann die 30.000 Dollar für ihre Fünfzimmerwohnung abbezahlt haben. 230 Dollar sind es im Monat, das ist fast die Hälfte von Hanis Gehalt. Von ihrer Wohnung aus kann Raida auf Netzarim sehen. „Diese 4.000 Siedler kontrollieren alles“, sagt sie. Tagelang versperrten sie die Hauptzufahrtsstraße.

„Der hohe Preis, den wir bezahlen, ist dieser Frieden nicht wert“, sagt Raida. Hätte Palästinenserpräsident Arafat das Angebot Israels in Camp David unterschrieben, hätte das nicht nur die Aufgabe von 67 Prozent des historischen palästinensischen Landes bedeutet, sagt Raida. Die Palästinensergebiete machen heute nur noch 23 Prozent davon aus. Und selbst dieses Gebiet sei durch die jüdischen Siedler, deren Zahl seit Oslo nur noch gestiegen ist, auseinandergerissen. Der Rest sei ein „Dschungel“. Und dann auch noch der Kompromiss in Jerusalem und das Zugeständnis, dass die Flüchtlinge nie mehr in ihre Heimat zurückkehren werden. „Camp David zu unterschreiben, wäre das Ende unserer Hoffnung gewesen.“

Raidas Großmutter hütet den Schlüssel zu ihrem Haus, das ungefähr dort stand, wo heute der israelische Flughafen Ben Gurion liegt. Alle in Raidas Familie kennen die Geschichten von dem Gut der einst wohlhabenen Bauernfamilie inzwischen schon auswendig. Und auch Raidas Kinder hören der alten Frau gebannt zu, wenn sie von der Zeit vor dem Krieg erzählt.

Sie hätte sich damit abgefunden, das Gut ihrer Großeltern nicht mehr wiederzusehen, sagt Raida, „aber dann haben wir gemerkt, dass die Abkommen nicht eingehalten werden“. Weder die Verträge, die noch von der Likud-Regierung ausgehandelt wurden, noch zahlreiche Paragrafen der Vereinbarungen von Oslo und Taba sind umgesetzt worden. Israels Premierminister Ehud Barak hatte von Beginn seiner Regierungsperiode an versucht, anstelle einer schrittweisen Lösung direkt zu den sogenannten Endstatusverhandlungen zu kommen und deshalb die Verpflichtungen der Interimsvereinbarungen nur zögerlich umgesetzt.

Doch auch für Arafat hat Raida nicht viel gute Worte übrig: „Er spricht von Souveränität in Jerusalem“, sagt sie verächtlich, „dabei hat er noch nicht einmal in Gaza die Kontrolle.“ Immer mehr Anhänger der Fatach, der Partei Arafats, würden sich vom Weg der Verhandlungen abwenden. „Die Fatach wird eine neue Hamas werden“, sagt Raida. Die islamischen Fundamentalisten als Gewinner der Unruhen.

Vor dem Haus von Mahmud Sahar, dem Sprecher der Hamas, stehen zwei bewaffnete Männer. Die palästinensischen Sicherheitskräfte ließen in der vergangenen Woche zahlreiche Hamas-Aktivisten verhaften. Noch blieb die Führung der Bewegung von der Inhaftierungswelle verschont. Die Hamas kündigte Widerstand an, sollte sich das ändern.

In dem großen Wohnraum von Mahmud Sahar stehen nebeneinander zwei Couchgarnituren. Den flachen Esstisch schmücken rosafarbene Plastikrosen. Sahar übersetzt für Scheich Achmad Jassin, den geistigen Führer der Hamas, der nur Arabisch spricht: „Die neuen Verhaftungen sind ungerecht“, sagt der Scheich. Arafat handelte auf den Druck der Amerikaner, die „uns das Recht zum Widerstand rauben wollen und den Versöhnungsprozess innerhalb des palästinensischen Volkes torpedieren“. Trotz der Verhaftungen arbeiteten die beiden Parteien aber wieder enger zusammen. „Die Fatach versteht, dass unser Weg der richtige ist“, sagt der Scheich.

Seit jeher hatte die Hamas Verhandlungen mit Israel abgelehnt. Die Besatzung endet in den Augen der Fundamentalisten nicht an der Grenze von 1967, sondern das ganze Land „vom Südlibanon bis zur ägyptischen Grenze, vom Mittelmeer bis zum Jordan, ist von den Juden besetzt“. Erst wenn das alles befreit sei, werde die Intifada ein Ende haben, warnt der alte Mann.

Seit einem Sportunfall mit elf Jahren sitzt Achmad Jassin im Rollstuhl. Er ist bis zum Hals gelähmt. Seine nackten Füße stecken in halbhohen Boots, das lange Hemd reich bis zu den Knöcheln. Mühsam dreht er den Kopf zur Seite und erklärt mit hoher flüsternder Stimme: „Die Juden haben guten Grund, Angst zu haben.“ Nach den vielen palästinensischen Opfern wolle das Volk Rache. Seit Tagen herrscht in Israel höchste Alarmstufe. Eine Gruppe der Asadin el Kassam, des militanten Hamas-Flügels, hält sich, israelischen Informationen zufolge, bereits in einer der großen Städte im Kernland auf.

Selbst Raida, die bis vor einem Jahr noch regelmäßig in Dialoggruppen mit Israelis traf, unterstützt inzwischen den gewaltvollen Widerstand. „Wir können nicht vergessen“, sagt sie über die jüngsten Unruhen. Die vielen Toten, die vielen Verletzten. „Wir müssen kämpfen, denn die Israelis verstehen nur die Logik der Macht“, sagt sie. Um ein Land zu befreien, seien eben Opfer nötig.