Ballymurphy Boy

Mit dreizehn war Austie ein schmächtiges Kerlchen. Heute ist er zweiundzwanzig. Seine Heimat ist Ballymurphy, ein katholisches Viertel im Westen Belfasts. Demnächst muss er eine Haftstrafe antreten. Wenn er das Gefängnis wieder verlässt, wird er Vater sein. Und dann will er endgültig fort aus Nordirland. Eine Langzeitreportage

von ANIA FAAS (Text) und ANDRÉ LÜTZEN (Fotos)

Austie heute. Sonnenschirme über den weißen Plastiktischen, an jedem Ausgang ein Barbecue, ein Swimmingpool vor dem Tresen. „Boom, boom, boom, I want you in my room“, hämmert aus den blumengeschmückten Lautsprechern. Auf der Tanzfläche umarmt Charlotte eine Freundin, die zwei Muscheln als Bikinioberteil trägt. Badelatschen und dunkle Brillen gehören heute im „Sliabh Dubh“ zur Standardverkleidung. Das Bier fließt in Strömen, die Männer jedenfalls können sich mit dem exotischen, gelblich schimmernden „Sex on the Beach“-Cocktail nicht anfreunden, der ist etwas für Mädchen.

„Ich fühle mich wie sechzehn“, jubelt Charlottes Mutter Mary und drückt einen Fremden an ihre mächtige Brust, der sich bald als Seelenverwandter entpuppt. Gemeinsam tremolieren sie „Wheeen theee moon hits your eye like a big pizza pie – thaaat’s amoreee!“, bis die Nachbarn handgreiflich werden. „Die wissen hier keine guten Sänger zu schätzen“, maulen die beiden Dean Martins und stützen sich gegenseitig beim Rückzug aus dem Rampenlicht.

Austie ist der Auftritt seiner Tante sichtlich peinlich, er dreht ihr den Rücken zu und lässt seinen Blick über die tanzenden Bräute schweifen. Auf die in voller Kriegsbemalung steht er nicht so, aber Eamy meint, es kommen ja doch immer dieselben, also nimmt man, was man kriegen kann: „Any that opens the legs, that’s it.“ Austie bleibt schweigsam und trinkt.

Charlotte und ihre Freundin verlassen die Karibikparty des „Sliabh Dubh“ gegen drei Uhr morgens, eine Straße weiter feiert jemand Geburtstag. Zwei Stunden später, auf dem Weg nach Hause, wird es schon hell. Kurz vor dem Park bekommt Charlotte plötzlich Angstzustände, weiche Knie, Schweißausbrüche. Im weißen Schrank im Bad liegt eine Schachtel Prozac. Cha schickt ihren sieben Bier und dem Liter „Sex on the Beach“ zwei Pillen hinterher. Sie hat Asthma und bekommt keine Luft mehr, ein Krankenwagen fährt sie ins Hospital.

Am nächsten Nachmittag um fünf sitzt sie stumm und verkatert im Wohnzimmer vor der „Jerry-Springer-Show“. Gerdy kommt zu Besuch. „Ich war im Krankenhaus, fast hätten sie mir den Magen auspumpen müssen“, sagt sie mit rauher Stimme. Ihr Bruder geht in die Küche und sucht den Kühlschrank ab. „Klasse Party, oder? Schon wieder alle, das Bier. Fuck!“ Cha ist 24 und hat wegen ihrer chronischen Krankheit einen Antrag auf Frühpensionierung gestellt.

Es ist nicht leicht, etwas anderes zu machen als die anderen. Ballymurphy hat nur diese eine Kneipe mit guter Musik. Innerhalb der unsichtbaren Grenzen des Viertels trifft man immer dieselben Leute. Jeder weiß, was Austie macht, er weiß, was sie machen. Wenn seine schlaksige Gestalt die Straße hochkommt, steht immer einer am Gartenzaun, der die neusten Neuigkeiten gehört hat. Durch die Quadratmeile grauen Himmels kreuzt der Überwachungshubschrauber. Die Kinder spielen draußen, unter den Augen der Eltern und Nachbarn, die zu Hause sind, wenn sie nicht im Supermarkt oder im Pub sind. Den Jugendlichen hat die IRA verboten, an den Ecken rumzulungern – No more corner boys –, denn das macht einen schlechten Eindruck. Drogen auch – und Ladendiebstahl. Aber das schlimmste ist Joy-Riding: Autos klauen, verheizen und verbrennen. Das bringt Schande über eine gute katholische Familie. Bier trinken ist keine Sünde. Wenn man mittags anfängt, schafft man sechs bis sieben Pints am Tag.

Vor neun Jahren wollte Austie Fußballer werden und fand Elvis toll. Vor drei Jahren, mit neunzehn, wollte er für sein Land kämpfen und brauchte Geld für Billard und Bier an den Wochenenden. Heute liegt zwischen den Blättern seines Tagebuchs ein Stück Endlospapier, das aussieht wie ein langer Kassenzettel. Darauf steht sein record, seine Vergehen, und rechtsbündig daneben die fälligen Einheiten an Geld- und Freiheitsstrafen. „Wenn all das vorbei ist, will ich mit Kiera und dem neuen Kind ein anderes Leben anfangen, irgendwo im Süden von Irland.“

Austie mit dreizehn. Als Austie eines Morgens erwachte, lag auf dem Küchentisch ein Brief von der Stadt. „Wir sollten neue Häuser kriegen, die alten sollten abgerissen werden. Ich war sehr aufgeregt, denn es war eine Herausforderung für mich, weil ich das noch nie gemacht hatte – umziehen“, schrieb er mit runder, nach links kippender Schrift in sein Tagebuch.

Er war zu zierlich für seine Schuluniform, wirkte jünger als dreizehn, und lebte in Ballymurphy, einem kleinen hügeligen Viertel voller seltsam gewundener Straßen. Er rannte zum Nachbarhaus, wo seine Tante Mary mit ihrem Mann Tucker und den sieben Kindern wohnte. Hier war die Nachricht auch schon angekommen. Gerald und Sammy, die stämmigen, ewig hungrigen Cousins spielten Billard. Der Miniaturtisch mit dem blauen Filz gehörte der Gemeinde und passte gerade zwischen den langen Esstisch, die Einbaugarnitur mit den abgestimmten Grüns und den zweistöckigen Kühlschrank, an dem Jesus-Magneten hingen. Auf dem Herd brodelte die Friteuse, im Radio kamen rebel songs, wie Tante Mary alle irischen Volkslieder nannte. Ihre jüngste Tochter Charlotte jubelte: „We are no tramps anymore, we are snobs now.

In den folgenden Monaten wurden die verwahrlosten Straßen noch schmutziger durch die Bauarbeiten und den Staub der Abrissbirnen, aber die Ruinen gaben die besten Spielplätze ab. Eines Tages entdeckte Austie, wie man Geld machen konnte. Er sammelte alte Kabel, verbrannte das Gummi und zog die Drähte heraus. „Dafür bekam ich etwas Geld, und ich sagte mir, das ist doch großartig, und ich machte weiter damit.“ Oft saß er mit Mary und den anderen im Wohnzimmer. Die Tante trug auch tagsüber ihr Nachthemd und hatte die rosa Tapeten über dem Fernseher mit Kruzifixen, Heiligenbildern und -statuen gepflastert. Fatima auf dem Fächer war ihr Liebling. Auf der bunt schraffierten Sitzgarnitur konnte man nur essen, wenn jeder seinen Teller auf den Knien balancierte.

Versteh mich nicht falsch, aber ich finde, Kathleen geht zu weit . . . Gestern hat sie sich den Rock über den Kopf gezogen, vor allen Leuten! Verdammt, sie hat fünf Kinder.“ „Fluch nicht, Charlotte!“ „Sorry, Ma, God forgive me.“ Die Jungs kicherten in ihre essiggetränkten Frittenberge. Das Telefon klingelte. Tucker, noch schwankend vom ausgiebigen Frühschoppen, nahm ab: „Hallo?“. Alle hoben den Kopf und sahen ihn fragend an. Er wollte endlich in Ruhe essen. „I don’t even fucking know you!“ brüllte er und knallte den Hörer auf die Gabel.

Das Wichtigste über Dessie Ellis wusste Austie von seinem anderen Onkel, den alle nur McCharra, Freund, nannten. Dessie war ein Held, denn er hungerte seit Wochen im Gefängnis. Gegen die Briten, gegen die Protestanten und für die Provos. IRA sollte man nicht laut zu ihnen sagen, falls ein Brit zuhörte, sagte Mary. Austie durfte dabei sein, als sein Onkel, der Ballymurphys größte Wandbilder gemalt hatte, einen Schriftzug in die Berge stellte. Keuchend schleppten die Männer im Schutz der Dunkelheit die großen Plastiklettern hangaufwärts. Wie jede Nacht kreiste der Hubschrauber der Briten im schwarzen Himmel und übertönte die Stille der kühlen Wiesen. Bis sie den letzten Buchstaben mit Heringen im lehmigen Boden verankert hatten, war es weit nach Mitternacht. Ganz Belfast würde es lesen. SUPPORT DESSIE ELLIS. Vom Triumphgefühl der Verschwörer angesteckt, legte sich Austie nach dem anstrengenden Abstieg zufrieden ins Bett. Am nächsten Morgen traf er seinen Vater, der mit leerem Blick vor einem Glas Bier saß. Vom Vorgarten aus konnte man den Satz perfekt sehen. Leuchtend weiß war in den Black Mountains zu lesen: FUCK DESSIE ELLIS. Der stumme Zorn der Nachbarn steckte an. In regelmäßigen Abständen fuhren die grauen Panzerwagen der Regierungsmacht die Hauptstraße auf und ab, wie jeden Tag. Zum ersten Mal machte sich Austie Gedanken, wann er eigentlich aufgetankt wurde. Er war doch immer da, jeden Tag, jede Woche, jedes Jahr . .  .

Austie lernte daraus, dass man die Provos unterstützen sollte und die Briten hassen, wie es alle in Ballymurphy taten. Mit neunzehn dachte er, wenn ein Bürgerkrieg kommt, müssen wir bereit sein zu kämpfen. Ins Tagebuch malte er Schriftzüge und Maskenmänner.

Seine Wege führten heraus aus dem Freundeskreis, aus dem Wohnzimmer an wichtigere, geheimnisvolle Orte. Sein Lieblingsplatz wurde der stille Milltown Friedhof, wo die Gräber der Märtyrer lagen. Obwohl kein Datum darauf stand, wusste er genau, wann sie ums Leben gekommen waren. Jeder wusste es. Die Tafeln auf dem erhöhten Podest waren in grüne spitze Kiesel eingebettet. Auf manchen Grabsteinen stand killed in action, auf anderen assassinated. Er lernte sprachliche Feinheiten und das Leben der Erwachsenen vom Tod her zu verstehen. Wie jeder Teenager hatte er einen Hang zum Dramatischen. Leben hieß kämpfen, und kämpfen hieß leben.

Im Dezember sind die neuen Häuser fertig, rote Ziegelfassaden, zwei Zimmer unten, drei oben, alle gleich schön. Mit Vorgarten und einem Autostandplatz im Hof, wo man sitzen kann, denn Autos gibt es in Ballymurphy kaum. Autos werden gebraucht, wenn das Wetter schön ist. Dann spielen die Nachbarn auf der Straße Bingo und die Kinder schliddern auf Seifenschaum. Einer sperrt die Straße ab, indem er einen Kombi querstellt, zur Not tun es auch ein paar Mülltonnen. Immer ist etwas los, das Wort Werktag hat seine Bedeutung verloren. Die Großväter waren seit jeher arbeitslos, die Väter haben keine Arbeit, und die Söhne leben von der Sozialhilfe.

Austie mit neunzehn. Vor zwei Jahren hat Austie die Schule beendet. Am äußersten Rand des Bürgersteigs schlendert er die Straße runter in Richtung Sozialamt. Wenn ein Bus nah an ihm vorbeistreift, zieht er die Schultern noch mehr ein. Seine Ohren stehen ab, das zarte Kindergesicht von einst ist unter dem fasrigen Schnurrbart kaum wiederzuerkennen. Weil seine Freunde dabei sind, redet er anders als sonst, kürzer, mehr von oben herab, sein plötzliches Stakkatolachen schlägt er seltener an.

Im Park, zwischen den alten Grabsteinen, öffnet er die Videohülle, die er unter dem Arm getragen hatte, und zieht Blättchen und eine kleine Stange Haschisch daraus hervor. Der rothaarige Eager dreht, mit dem angezündeten Joint schlendern die drei zurück auf die Falls Road. Donnerstags geht man zum Amt und holt sich 140 Pfund für den Monat ab. Dann kommt das Wochenende. Im Pub kostet das Pint zwei Pfund, ein Päckchen Zigaretten etwas über drei. „Wochenende. Party, drink and meet girls. Montag, Dienstag, Mittwoch, no money left, I relax“, schreibt Austie.

Mit dem Kabelsammeln hat er aufgehört. Er braucht mehr Geld, um die Abende mit Charlotte, Mickey und Eamy beim Billard zu verbringen. Die Jungs tragen raspelkurze Haare, nur der Pony bleibt länger und wird mit Gel in Streifen geformt, die wie ein öliger Kamm auf der Stirn kleben.

Verhütung ist für Katholiken verboten. Die meisten Kinder werden direkt im Anschluss an die Parties im Springhill Park gezeugt. Er ist sauber, die Wiesen sind grün, das Buschwerk dicht. Tagsüber schieben 15-jährige Mütter Kinderwagen durch die Anlage. Austie wird zum ersten Mal Vater, darf seine Tochter aber nicht sehen.

Oberhalb des Parks steht eine der peace lines, gigantische Metallbarrieren, die die freie Durchfahrt vom und ins Feindesland verhindern. Obwohl es zu Fuß nur zwei Minuten sind, würde Austie niemals auf die protestantische Seite der Friedenslinie gehen. Schon als Kind wusste er, dass man ihn dort sofort als Katholiken identifizieren würde. „Wenn sie dich schnappen, hacken sie dich in kleine Stücke, wirklich. Sie sind böse. Wenn ein Katholik einen Protestanten schnappt, schlägt er ihn vielleicht, aber er verletzt ihn nicht ernsthaft. Protestanten tun das schon. Wie die Shankill Butchers, die sind rumgezogen und haben Leute kleingehackt.“

Tante Mary betet allerdings auch für die Protestanten, denn Gott liebt alle seine Schäfchen. Als der Waffenstillstand kam, wurde sie krank. „Meine Schwester hat gesagt: Jetzt, wo die Troubles zuende sind, kriegst du Depressionen!“ Mary lacht halbbitter, mit einem Auge bei der Fernseh-Show „Mummy knows best!“. Einer der Kandidaten wird gleich seine Mutter treffen, die vor Publikum eine Freundin für ihn aussuchen will. „Are you nervous?“ fragt die Talkmasterin. “You shouldn‘t be. You should be terrified!“ Gott war es, der Mary durch seine unendliche Gnade wieder gesund gemacht hat, und die Mutter Maria. Aber drüben hat sie nunmal keine Freunde, deshalb bleibt sie hier und redet nur mit Katholiken.

Gerald musste den Billardtisch im Gemeindesaal abgeben, wo sich sofort dreißig übermütige Halbwüchsige darüber hermachten. „Give us a fag, gib mir eine Zigarette!“ befiehlt er Charlotte. Sie erwidert „Ist deine Kohle schon wieder alle? Fuck! God forgive me . . .“ und wirft ihm drei „Regals“ aus ihrer Packung vor die Füße. „Was soll ich machen außer rauchen? War was the best activity we ever had in West-Belfast.“

Der Weg zum Amt führt durch die Falls Road, eine lange, windige Straße. Kein Ende, kein Anfang, keine Mitte. Die Ziegelfassaden sind hier schon etwas älter. Wer an der Kirche vorbeikommt, bekreuzigt sich mit gesenktem Kopf. Am Seitenschiff hängen dieselben Schilder wie vor den Supermärkten, schwarze Schablonenschrift auf knalligem Neonorange, nur steht nicht „Beef 99 p“ darauf, sondern Dinge, die der Herr sprach. Ein zackiges Gitter und ein Eisentor versperrt die Parteizentrale, das Connolly-Haus. Innen ein Empfangsraum mit Bibliothek. Bruce Chatwins „Reise nach Patagonien“, ein Band der Reihe „Sex in History“, einige verstaubte Marx-Werke. Fahnen, Fotokopien von Gruppenaufnahmen mit Maskenmännern und Cottages aus Ton. Wer sie kaufen will, spendet das Geld in eine Metallbüchse.

Austie sagt nur kurz hallo und geht wieder. Im Mittagshimmel steht der Hubschrauber, er bemerkt ihn gar nicht mehr. Lange kahle Mauern kennzeichnen das Areal des Krankenhauses. Ein Coffeeshop, ein Supermarkt, ein Kiosk. Eine blaue Mauer: das Schwimmbad. Eine mannshohe, graue Mauer: das College. Schwarze, bucklige Taxen kutschieren auf und ab, den losen Müll am Straßenrand aufwirbelnd. Die Cabs sind billig, aber sie dürfen nur auf der Falls Road fahren.

An ihrem östlichen Ende müssen die Passagiere auf einem viereckig umzäunten Sammelplatz aussteigen und zu Fuß in die protestantischen Gebiete weitergehen. In den abzweigenden Wohnstraßen hängen Girlanden mit dreieckigen Fähnchen. Drahtverschläge zeigen die Eingänge der Kneipen an. Wer Bier trinken will, muss am Gitter klingeln und durch den Raubtierkäfig zur Eingangstür schleichen. Innen hängen Schwarzweiß-Bildschirme, auf denen jeder Gast beobachten kann, wer hereinkommt. Austie, der sich sonst nach jedem vorbeifahrenden Auto umsieht und ständig nervös seine Umgebung absucht, hat heute andere Sorgen. „People say, brain is a complicated thing – it isn’t . . . Women are! Fuck!

Austie heute, mit 22. „Dieu et mon droit“ steht über dem Portal des Gerichts. So einen strahlend blauen Tag hat Belfast lange nicht erlebt, die monumentalen Gebäude der Innenstadt sehen weniger bedrohlich aus als sonst. Auf den langen Holzbänken hinter der Sicherheitsschranke nehmen die Delinquenten Platz, nur irische Namen, keine Ausländer auf der Liste. Anwälte hüpfen wie schwarze Schmetterlinge von Fall zu Fall, keine Besprechung dauert länger als zwanzig Sekunden. Austie ist jetzt allein mit den irischen Verbrechern und den britischen Gesetzeshütern. Die Familie, die Nachbarn, die Provos sind in Ballymurphy geblieben, auf katholischem Gebiet. Und die katholische „Verhandlung“ hat er bereits hinter sich. Eines Tages kam ein Auto, zwei Männer vorne, zwei hinten. Er stieg ein, sie verbanden ihm die Augen und fuhren ein Stück aus der Stadt heraus. Dann nahmen sie ihm die Binde ab. Ein Mann holte sechs Patronen aus einem Revolver, legte sie auf seine Handfläche und sagte zu Austie: „Wenn du mit dem Scheiß nicht aufhörst, ist eine davon für dich.“

Die Briten haben Gefängnisse. Austies Fall liegt klar, es werden 18 Monate. Gestern hat er seine Freundin geschlagen, weil sie nicht mehr mit ihm reden wollte, und sie ist gegangen. „Ich habe ein wunderbares Mädchen kennengelernt. Sie heißt Kiera, und sie ist eine echte Frau, von Kopf bis Fuß. Ich denke an nichts anderes mehr. Sie hat mein Leben verändert.“ In seinem Tagebuch ist der Name Kiera immer groß geschrieben, KIERA. Charlotte wollte ihn zu einer Pilgerreise überreden, ein Wochenende an den „Holy Places“ im Süden. Hundert Pfund hat sie gespart dafür, sie werden im Hotel wohnen und umsonst essen und trinken, so viel sie wollen. Austie hat kein Geld und keine Lust, er will KIERA wiederhaben.

Auf dem Weg zurück vom Gericht, das bleiche Gesicht zu Boden gerichtet, kauft er den ersten Blumenstrauß seines Lebens, von geliehenem Geld. Er schämt sich für die Ohrfeige. Er schämt sich, dass er Schande über seine Familie gebracht hat. Einmal haben sie ihn im Supermarkt in Ballymurphy geschnappt, als er einen gefälschten Scheck einlösen wollte. Als ihn die Polizei abholte, sahen die Kunden neugierig zu. Alle waren Nachbarn und Bekannte aus Ballymurphy, er kannte jeden, jeder kannte ihn.

Im Knast lernte er viel. Die Besucher brachten den Häftlingen Orangen, die mit Wodka gespritzt waren, von drei Orangen konnte man sich ganz ordentlich betrinken. „Im Knast kannst du alles machen, nur nicht rausgehen oder eine Frau reinbringen.“ Jedes Jahr gibt es einen Tag, an dem sich die Exgefangenen von Ballymurphy treffen. Manche haben Bücher geschrieben, andere haben studiert. Die, die im Knast waren, reden auch mit Protestanten, das haben sie hinter den Mauern gelernt, weil es nicht anders ging. Aber sie haben einen anderen record als er, kein Shop-Lifting und kein Joy-Riding. Sie sind der Linie treu geblieben.

Kiera wirft den Blumenstrauß weg. Am nächsten Tag ruft sie an und fragt, ob er mit in die Klinik kommt. Die Ärzte bestätigen: Sie ist schwanger. Austie freut sich, Kieras Mutter weint. Das wiedervereinte Paar läuft eng umschlungen durch Ballymurphy, die Kinder rufen Austie nach: „Hey, look, Austie, the population-tool.“ Kichernd suchen sie hinter den Vorgartenzäunen Deckung. Wenn das Kind kommt, ist der Vater hinter Gittern. Wenn alles vorbei ist, will er zeigen, dass er sein Leben geändert hat. Er will weg von West-Belfast. Keine Eltern, kein Reihenhaus, keine Arbeitslosigkeit, keine Provos, keine Briten. Etwas anderes machen als die anderen.

Charlotte ist zurück vom Heiligen Wochenende. In der Grotte der Jungfrau hatte sie Erscheinungen, ihre Freundin hat sogar ihre verstorbene Großmutter erblickt. „Wahnsinn, for fuck’s sake, du schaust die Maria an, und um ihren Kopf strahlt blaues Licht.“ Danach waren sie zu müde, um in die Bar zu gehen, und das, obwohl es Freibier gab.

Glücklicherweise hat Gerald 24 Flaschen eingekauft, sachte fangen sie an zu trinken. Es spricht sich herum, dass Austie Vater wird. „Es gibt Schlimmeres, als Kinder zu kriegen“, sagt Charlotte. Über den Nordirlandkonflikt ist gesagt worden: „Für die, die verstehen, ist keine Erklärung möglich. Für die, die nicht verstehen, ist keine Erklärung nötig.“ Nach Ballymurphy zieht keiner, der nicht dort geboren wurde.