Kampf der Ismen

War da was? Eine Tagung über Jean-François Lyotard belebte in Frankfurt einen klassischen Philosophenstreit

Es war einmal in Frankfurt, da ortete Jürgen Habermas ein neues Feindbild, die „Jung-“ und „Neukonservativen“ unter den zeitgenössischen französischen Philosophen. Das war vor zwanzig Jahren in der Paulskirche. In den Hörsälen von Bockenheim führte er seine Vorwürfe aus, zwei Semester lang, immer dienstags. Es muss etwa so geklungen haben: Irrationalistisch diese Franzosen, haben das emanzipatorische Projekt der Aufklärung preisgegeben! Kurze Zeit später ist das gesprochene Wort Buch geworden, verlegt in Frankfurt, wo sonst. Wer heute „Der philosophische Diskurs der Moderne“ liest, taucht ein in den Streit um die Postmoderne, ein Streit, der inzwischen so weit entfernt scheint wie die Nachrüstungsdebatte oder die gemütlichen Trainingshosen von Jupp Derwall.

Wenn sich eines Tages ein Ideenhistoriker daran macht, diese Kontroverse aufzuarbeiten, wird er sich die Haare raufen. Zu befremdlich sind die Hinterlassenschaften: Ein Vermittlungsversuch hier, ein „Geistergespräch“ dort, verfasst von philosophischen Anwälten, da die Protagonisten kaum miteinander kommunizierten. Habermas attackierte Jean-François Lyotard, den Autor von „Das postmoderne Wissen“ – allerdings ohne ihn in den Vorlesungen oder der Paulskirchenrede namentlich zu erwähnen. Er torpedierte Michel Foucault – doch der, in den Sechzigerjahren selbst nicht verlegen um theoriepolitische Torpedos, schenkte der Polemik der Achtziger bloß ein maliziöses Lächeln: Die Postmoderne? „Ich bin nicht auf dem Laufenden.“

Der Mann, der sich diese Antwort einfing, heißt Gérard Raulet. Er gehört zu jenen Franzosen, die schon früh die Diskurstheorie der Frankfurter Schule rezipierten. Heute müht er sich, rechts und links des Rheins zu vermitteln. Und doch ist er es, der jetzt die überkommenen Urteile noch einmal aus der Schublade zog: „Das postmoderne Wissen“ könne keine normativen Orientierungen geben, weil es den agonistischen Charakter der Sprachspiele absolut gesetzt habe; die Folge seien Eklektizismus, Zynismus, Ismus, Ismus ... So sprach Raulet an der Goethe-Universität, wo unter dem Titel „Im Widerstreit der Diskurse“ gerade eine Tagung über Jean-François Lyotard stattfand.

Lyotard in Frankfurt, das ist auch nach all den Jahren delikat. Zwar hatte Dietmar Kröveker, Organisator der Tagung, die beste aller Absichten, nämlich die Konzentration auf Lyotards philosophisches Hauptwerk „Der Widerstreit“ zu lenken – „vorbehaltlos“, wie er sagte. Aber die überlieferten Frontlinien schimmerten noch durch, nicht immer explizit wie bei Gérard Raulet, meist unterschwellig. Die alten Meister der deutschen Diskurstheorie schlugen ihre Einladungen zu dem Symposium aus, teils wegen anderer Verpflichtungen, teils aus Desinteresse. Jedenfalls war Köveker so verschnupft, dass er deren Fernbleiben gleich mehrfach monierte und dem Publikum süffisant aus Habermas' Absagebrief vorlas. „Sehr diskursethisch!“, höhnten ein paar Zuhörer im Bockenheimer Konferenzraum – und meinten den abwesenden Professor.

Schade, dass Tilman Borsche, Herausgeber der Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie, erst am Schluss referierte; er hätte schon zu Beginn Missverständnisse ausräumen können. Während einst Manfred Frank Habermas' „Konsens“ (als Sieger) und Lyotards „Dissens“ (als Verlierer) gegeneinander ausspielen konnte, stellte Borsche fest, dass die unterstellte Symmetrie der Konzepte keine ist: Beide Begriffe liegen auf kategorial anderen Ebenen. Der Konsenstheoretiker nimmt Verständigung als Ziel jeder Kommunikation an, der französische Philosoph spart den Platz des Telos aus – und besetzt ihn erst recht nicht, wo käme man da auch hin, mit einer Idee vom Dissens. Lyotard bestreitet keineswegs, dass etwa die argumentative Rede zu Verständigung führen kann, vielmehr lässt er auch andere Diskursarten zu. Er holt er die Wahrheit, dieses liebste Abstraktum der Philosophen, zurück in die Praxis des Sprechens und kann deshalb Fragen wie diese stellen: Wer hat wann die Möglichkeit, worüber die Wahrheit zu sagen?

Der Widerstreit geht also den zahllosen Versuchen, wahr und falsch zu definieren voraus. Lyotard interessiert, wie der Bochumer Philosoph Bernhard Waldenfels nicht müde wurde zu betonen, ob „etwas zur Sprache kommt oder nicht“. Oder, wie Petra Gehring formulierte, das „Vakuum vor dem nächsten Satz“.

Gehring verschob die Diskussion hin zur politischen Philosophie, indem sie den „Rechtsstreit“ als Gegenbegriff des Widerstreits rekonstruierte. Sie brachte einen ambivalenten Lyotard zum Vorschein. Er plädiere sowohl für radikalen Widerstand als auch für eine deliberative Politik; die Entscheidung zwischen Anarchie und politisch-rechtlichen Verfahren bleibe in der Schwebe. Gehring betonte die versöhnliche Seite ihres Befundes – „so groß ist der Unterschied zwischen Paris und Frankfurt gar nicht“ –, obwohl ihre Lyotard-Lektüre die alten Scharmützel längst hinter sich gelassen hatte. Für die Tagung war das typisch: Selbst die Referenten, die kompetent vorführten, wie reich das Denken des Widerstreits noch heute ist, blieben ein bisschen befangen in jener deutsch-französischen Konfrontation, die keine war. RENÉ AGUIGAH