Frankfurts Bannwald vor dem Fall

Nach dem Bau der Startbahn West wurde Förster Scheels Wald zum Bannwald erklärt. Dennoch könnte er bald der neuen Landebahn geopfert werden

Aus Frankfurt am MainSYLVIA MEISE
(Text) und PAT MEISE (Fotos)

„Der ist schon länger tot.“ Vor einem nackten Stamm zieht Förster Holger Scheel die Farbdose aus dem Halfter und färbt mit einem Zisch das verblasste Zeichen für Totholz – ein Dreieck – wieder neongelb. Das leise Kugelklackern in der Farbdose begleitet ihn und seine Labrador-Retriever-Hündin Briska, während er in seinem Revier den Baumbestand überprüft. Seit einem Jahr gehören nicht mehr nur Holzeinschlag, Jagd und Bestandsaufnahme zu seiner Arbeit, sondern auch Sitzungen in der Gewerkschaft Bauen, Agrar, Umwelt, Teilnahme an Symposien und die Veranstaltung von Waldführungen.

Zwar stellen die Förster in der IG BAU nur eine Minderheit, doch das Motto „Keine Landebahn im Bannwald“ ist Konsens. Auch den anderen Mitgliedern habe sich schließlich die Grundfrage gestellt, wer im Rhein-Main-Gebiet noch arbeiten wolle, wenn die Lebensgrundlagen zerstört seien. Zur Erinnerung: Nach dem Bau der Startbahn 18 West Anfang der Achtzigerjahre hieß es, der Frankfurter Flughafen werde künftig nicht mehr erweitert. Zusätzlich wurde der Wald rund um den Flughafen durch die Erklärung zum „Bannwald“ gegen weitere Eingriffe gesichert.

Nur Wald, der unersetzlich ist, erhält nach dem Gesetz dieses wertvolle Prädikat. So wie die rund 4.000 Hektar rund um Frankfurt. Sie werden als Erholungsgebiet, Trinkwasserlieferant, Schadstofffilter, Lärm- oder Klimaschutz gebraucht. Also: Abholzen verboten. Nichtsdestotrotz, wundert sich Scheel, werden drei Ausbauvarianten favorisiert, die alle jeweils etwa 300 Hektar Bannwald kosten würden.

Noch hört man die Eicheln fallen

Wo genau die neue Landebahn gebaut werden soll, ist nicht endgültig entschieden. Derzeit ist die „Nord-West-Variante“ die wahrscheinlichste. Dann würde zwar kein Baum in Förster Scheels Wald gefällt, dafür läge der dann in der Einflugschneise, die in nur 60 bis 70 Meter Höhe überflogen wird.

„Ich bin jetzt zehn Jahre hier, und ich werde bleiben bis zu meiner Pensionierung.“ Ein für die Bankenstadt ungewöhnlicher, für einen Förster aber normaler Karriereplan. Scheel aber hat Zweifel. Sein brutalstmöglicher Albtraum wäre die „Nordbahn“. Die Hälfte seines Waldreviers – alles Bannwald – würde dann abgeholzt.

Noch hegt Holger Scheel die Hoffnung, dass das Bannwaldgesetz greift. Könne es für monetäre Interessen gekippt werden, so seine Auffassung, sei es wertlos und ein Fanal für alle anderen bundesdeutschen Bannwälder.

Noch hört man hier die Eicheln fallen. Sie prasseln auf den weichen Boden. Scheel bemerkt jede Veränderung, das ist sein Job. „Hier“, er zeigt auf die jungen Triebe der Hainbuchen, „die oberste Knospe fehlt – das waren Rehe.“ Auch die jungen Himbeerpflanzen sind verbissen. „Himbeeren mögen sie.“

Gerne führt er Leute durch den Wald: „Wir versuchen, alle hierher zu kriegen – Politiker wie Bürger –, um ihnen zu zeigen, wie schön und wie wichtig Wald ist.“ Auch seinen Lieblingsplatz hat er im letzten Jahr preisgegeben: eine 251 Jahre alte Buche, drum herum ein natürlich gewachsener, lichter Platz mit geradezu mystischer Ausstrahlung. Ein bisschen Wald-PR muss sein, heute heißt sie „Goethe-Buche“. „Als ich hier angefangen habe“, erzählt Scheel, „konnte ich von dem Baum aus noch bis zum Weg gucken.“ Heute umgibt die Buche ein undurchdringliches Dickicht.

Wenn es um Bäume geht, kennt Holger Scheel viele Geschichten, „Sie kennen doch die Frau mit dem Pflänzchen auf den 50-Pfennig-Stücken?“ Das sind „Kulturfrauen“. Nach dem Krieg gab es weder Autos noch Baumschulen, wie also aufforsten? Eimerweise, erzählt der Fachmann, schleppten die Kulturfrauen Eicheln in den Wald. Damit die Minieichen wachsen konnten, sichelten sie regelmäßig auf Knien das Gras nieder.

Saisonarbeit im Wald war nach Geschlechtern getrennt: Im Winter kamen dann arbeitslose Schreiner oder Steinmetzen in den Wald. Erst seit 40 Jahren arbeiten hier ausgebildete Forstwirte – seitdem ist die Zeit der raubeinigen Holzfäller vorbei.

Oder Baumgeschenke. Die Förster haben ihrem Chef, dem Umweltdezernenten von Frankfurt, Achim Vandreike, zur Hochzeit ein Bäumchen geschenkt und ihm empfohlen, gut darauf aufzupassen, denn wie der Baum, so die Ehe. Das sei Tradition in seiner Heimat, der Gegend von Bielefeld, erzählt Scheel. Man pflanzte früher bei jeder Heirat und Kindstaufe. Deshalb finde man dort auf dem platten Land die Bauernhöfe von mächtigen Bäumen umstanden.

Im Innern des Waldes entdeckt der Forstmann heute nur wenige Bäume, die er mit einer Diagonale, sprich „fällen und verkaufen“, markieren muss. Zwei Buchen, bei denen die Rinde abgeschabt aussieht und Löcher aufweist. Ihre Blätter sind braun, die Nachbarkronen noch saftig grün.

Die meisten kranken und kaputten Bäume gebe es an den Straßen. Grund dafür seien nicht Schadstoffe, erklärt der Förster, sondern die Zerschneidung des Waldes. Waldbäume lieben es nicht, frei zu stehen. „Die kriegen dann regelrecht einen Sonnenbrand – Rindenbrand heißt das dann.“ Die Rinde platzt ab, und das Gewebe stirbt, beschreibt Scheel den Vorgang. Sind die Randbäume hin, kommen die nächsten dran.

Auch den Tieren versperrt jede zusätzliche Straße die natürliche Suche nach neuen Nahrungsquellen oder Revieren. Die Wildschweine besuchen schon regelmäßig die nahe liegende Siedlung. „Dann rufen mich die Leute und klagen, dass die ihnen den Rasen umgebuddelt haben.“ Scheel grinst ein bisschen. Ihm selbst passiere im Wald oft, dass er, vertieft in irgendwelche Aufzeichnungen, nicht mitkriege, dass ein Wildschwein sich nähert. „Wenn ich mich dann bewege, und es erschrickt, krieg ich jedes Mal fast einen Herzschlag.“

Kapazitätserweiterungen, wie der Flughafen sie auf fünfzehn Jahr plant, nennt Scheel kurzfristig. „Wir Förster denken in Baumzeitaltern.“ Auf einer Waldkarte von 1931 zeigt er, was Kontinuität bedeutet: „Diese Buchenbestände hier hat Oberförster Philipp Vogel gepflanzt – heute sind sie gut 200 Jahre alt. Und das hier“ – der Zeigefinger rückt ein Stückchen nach links auf ein kleines orange markiertes Karree – „sind 400 Jahre alte Eichen. Macht richtig Spaß, da durchzulaufen.“ Seine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass auch in zweihundert und mehr Jahren noch Frankfurter Bürger ihren Nutzen aus dem Wald ziehen können.

Nicht umhauen und platt klopfen

Von diesem Nutzen haben die Frankfurter bislang wenig gewusst. Seit der Diskussion um den Flughafenausbau jedoch interessieren sich immer mehr Bürger für ihren Wald. Zusammen mit seinen Kollegen macht Holger Scheel jetzt eine Forstbesichtigung nach der anderen. Nicht nur Waldliebhaber bitten um Termine. Viele, staunt Scheel, wollten die Gegenseite hören. Die Fragen drehen sich oft um den Bannwald und darum, ob der Wald nicht ohnehin schon so krank und kaputt sei, dass man ihn für den Flughafen roden könnte. „Das“, bedauert Scheel, „sagen aber nur die, die den Wald nicht kennen.“

Reinhard Divisch, der stellvertretend das Forstamt leitet, hat auch kein Verständnis für diese Haltung „Wenn Sie krank sind“, poltert er, „gehen Sie dann zum Arzt, um sich erschießen zu lassen?“ Die Förster erinnern daran, dass Wald eben auch einen ideellen Nutzen hat. Erholung, gute Luft, angenehmes Klima haben keinen Mark(t)wert. Primäre Aufgabe sei derzeit die „Forstverjüngung“. Im Wald dauere halt alles etwas länger, erinnert Scheel und warnt davor, alte Bestände „umzuhauen“, „abzuhacken“ oder „platt zu klopfen“.

Verachtung schwingt in den Worten, die er benutzt, wenn es nicht um Forst-, sondern um Marktwirtschaft geht. „Das kann man ja nie wieder gutmachen.“ Der Auflage, ausgleichende Aufforstung zu betreiben, käme die Flughafen AG zwar nach. „Aber“, wendet er ein, „man muss doch den Wald da erhalten, wo er gebraucht wird“, also zwischen Flughafen und Stadt. In typischen Rhein-Main-Sommern heizt sich das Gebiet auf rund 40 Grad auf. Es hat die trockensten und heißesten Sommer der Republik, weiß Scheel und versichert: Ohne den Luftfilter und Klimapuffer Wald, „der beide über Nacht wieder abkühlt, wäre es im Sommer in der Stadt nicht mehr auszuhalten“. Dass der Widerstand gegen den Flughafenausbau auf „Lärmschutz“ verkürzt wird, findet er schade. „Es geht dabei weder um den Wert des Waldes als Immissionsschutz noch um Verkehrskonzepte.“ Manchmal könnte man meinen, „der Flughafen sei eine AB-Maßnahme“, kommentiert Scheel die Arbeitsplatzargumentation.

Immissionsschutz? Scheel erklärt: Der Wald arbeitet als Sauerstoffproduzent gegenläufig zu der durch Verbrennungen verursachten Luftbelastung. „Deswegen gab es ja 1992 bei der Umweltkonferenz in Rio de Janeiro weltweit den Aufruf, den Raubbau an den Wäldern zu stoppen und Wald neu anzulegen: um das Verhältnis umzukehren.“ Und das Motto heiße doch immer „Global denken, lokal handeln“. Wenn der Flugverkehr aber ansteige, gleichzeitig Wald, der gegenläufig arbeitet, vernichtet werde, „dann ist das doch der verkehrte Weg“.