Warten aufs Bonmot

Über zwanghafte verlegerische Versuche, kulturelle Vielfalt anthologisch nachzuweisen, und selbst ernannte junge Wilde aus dem Morgenland. Buchreihen, die interkulturelle Existenz und Thematik zur Gattung erheben, geht schnell die Luft aus

von MARTIN HAGER

Ein Gespenst geht um in Deutschland. Kulturelle Vielfalt ist Trend. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist sie zwar noch eine zarte Knospe, in Verlagshäusern wird sie dafür umso kräftiger begossen: Bereits letztes Jahr hatte Ullstein seine „Geschichten von deutschen und anderen Ausländern“ unter dem schlichten Titel „Kanaksta“ unters Volk gebracht – im Anschluss an den Erfolg, den Feridun Zaimoglu mit ebendiesem Schlagwort genoss. In diesem Jahr ist dann Kiepenheuer & Witsch mit dem poetischen Titel „Döner in Walhalla“ für seine „Texte aus der anderen deutschen Literatur“ in Erscheinung getreten. Zuletzt zog der Fischer Verlag mit „Morgen Land“ nach und apostrophierte das, was einst als Ausländerliteratur bezeichnet wurde, flugs als die „Neueste deutsche Literatur“ überhaupt.

Es wirkt irgendwie abstoßend, wenn Trends derart ausgereizt werden. Klassifizierungen sind zwar hierzulande kaum zu verhindern, das ist aber kein Grund, gleich eine neue Schule auszurufen, die die hiesige Literatur „bereichert“, wie es in Spezialistenrunden immer wieder gern behauptet wird. Warum überhaupt „bereichert“? Kann sie denn nicht sein, die Literatur, wenn sie dieses arme Land nicht reicher macht? Vielleicht steigert sie ja das Bruttosozialprodukt. Damit gehören die Autoren dann wenigstens zu den guten Einwanderern, deren Anwesenheit hierzulande den „Interessen der Deutschen entspricht“. Das wäre zumindest im Sinne der CDU. Wenn der Marktwert stimmt, überlappen sich literarischer Diskurs und Migrationsdiskurs.

Die Realität ist allerdings anderswo. Verschiedene Trends, verschiedene Zielgruppen. In die neuen Bundesländer will ein Feridun Zaimoglu verständlicherweise nicht gehen, in die Buchmessenstadt Frankfurt am Main schon eher. Die beiden neuen Anthologien sind denn auch westlich-korrekt von Betroffenen herausgegeben. Der aus Bulgarien stammende Ilija Trojanow zeichnet für den „Döner“ verantwortlich, der türkischstämmige Jamal Tuschik für das „MorgenLand“. Ihre Ansätze sind allerdings nicht identisch. Während Tuschik auf die Jugend schwört – er gibt den eisernen Vertreter der Generationentheorie – setzt Trojanow auf Zeitlosigkeit. Das ist ihm zu danken. Leider hat er sich aber in die Dienste der „authentischen Erfahrung“ gestellt, die zur Zeit en vogue ist. Nicht umsonst erfreuen sich Reiseliteratur und Biografien großer Beliebtheit.

Trojanows Buch ist klar strukturiert. Nach dem Einstieg mit einem zeitlosen Fantasiestück des Märchenonkels Rafik Schami finden sich, feinsäuberlich aufgereiht, einige Texte über längst vergangene Kindheiten in längst verlassenen Orten. Nostalgie schwebt über allem, gänzlich unbeleckt von Zweifeln am Sinn der Einbalsamierung von Erinnerungen. Es sind schöne Texte. Daran wiederum schließen sich erste Erfahrungen in der neuen Heimat, die natürlich keine ist. Der Kulturkontakt ist schwierig, Melancholie die überwiegende Einstellung. Das liest sich wie bedeutungsschwangere Zeigefingerprosa.

Zum Glück findet Trojanow dann den Faden zur Literatur. Die Erzählung eines Kurden über die Zustände in einem kleinen Dorf in der Türkei und eine Erzählung vom Herausgeber selbst über einen Haftentlassenen in Bulgarien konzentrieren in einem Moment menschliche Regungen, die nicht an einen bestimmten Zeitpunkt gekettet und somit zu Eintagsfliegen verdammt sind. Beeindruckend zeugen sie davon, dass es völlig sinnlos ist, Schriftsteller in eine bestimmte Ecke stellen zu wollen. Wenn der deutsche Schriftsteller nichtdeutscher Herkunft nur dazu gut ist, Texte zu verfassen über die Problematik interkultureller Existenz oder wahlweise über den Heimatschmerz (gilt nur für die „erste Generation“), fehlt ihm bald die Luft zum Atmen – die Authentizität allein reicht auch nicht weit.

Die Reihe „Morgen Land“ ist trendiger. Mit dem Spruch „Sind sie zu fremd, bist du zu deutsch“ auf dem Buchrücken stellt der Verlag klar, wo es langgeht. Hip soll es sein, eine neue Generation eben. „Ihr habt Angst vor unserm Sperma“ steht am Anfang und „In Zukunft wird das anders“ am Ende des Buches. Dazwischen soll der Beweis für den Wandel angetreten werden. Bewiesen wird allerdings in erster Linie, dass junge Autoren meist am Anfang ihrer Fähigkeiten stecken. Was Zaimoglu den Popliteraten à la Stuckrad-Barre vorwirft, nämlich „Knabenwindelprosa“ zu verfassen, trifft auf einen Großteil dieser Texte ebenfalls zu. Weder brüllige Tiraden gegen deutsches Spießertum noch bukowskiartige Sumpforgien sind originell und zeugen von Stimmen, die etwas Neues zu sagen hätten.

Natürlich gibt es auch hier Texte, die hervorstechen. Terézia Mora etwa oder eben Feridun Zaimoglu, aber das die schreiben können, war vorher schon bekannt. Daneben Maxim Biller, den der Fischer Verlag bereits 1996 – also lange vor der Ausdifferenzierung in Popliteratur, Mädchenwunder und Kanakenpulp – gefeiert hat, allerdings als Vertreter der „jüngeren deutschen Literatur“. Seine jüdische Herkunft war damals noch ein Element in der Vielfalt neuer Prosa, nicht ein Unterscheidungskriterium, das ihm durch positive Diskriminierung neue Leserschaften erschließen sollte. Nämlich die Jungen und ganz Jungen, von denen man annimmt, sie würden durch Sätze wie „nun sperr mal eine seite lang deinen gehirnschließmuskel auf“ oder „Trevor Balacs Vater war Stundenlangscheißer“ unweigerlich in jede Geschichte hineingezogen werden.

Um nun den Unmut nicht vollends um sich greifen zu lassen, sei ein Beispiel aus einem etwas kleineren Verlagshaus genannt, das weder modisch noch pseudoambitioniert ist. „Im Zwiespalt“ heißt der Band, ebenfalls eine Anthologie, ebenfalls mit Untertitel: „Prosa und Lyrik aus 21 Ländern. 60 Autor/innen“. Etwas hölzern, aber informativ. Vier Herausgeber zeichnen verantwortlich, aus dem Umkreis der Berliner Neuen Gesellschaft für Literatur (NGL). Zwei von ihnen, Elsbeth de Roos und Olav Münzberg, waren auch schon in der 1988 erschienenen Anthologie „Aufenthalt. Collagen einer Stadt“ vertreten. Ein Band mit Berlin-Erfahrungen „internationaler Autoren“, der in den Neunzigerjahren zu Recht in Vergessenheit geriet. Das Pathos der Fremde war doch zu übermächtig. Doch auch die NGL hat sich geändert, Betroffenheitsrhetorik ist passé. Im „Zwiespalt“ geht es – wie in den anderen Büchern – um Erfahrungen, aber die Autoren tragen ihren Ausländerstatus nicht so demonstrativ vor sich her wie die selbst ernannten Jungen Wilden des „Morgen Lands“. Es muss nicht immer verlorene Jugend oder drogenumkämpfte Großstadtszenerie sein. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Autoren sich weder in Pose werfen noch ungeheuer bedeutungsschwanger schreiben. Manche Texte sind fantastisch, manche auch rührend naiv, in jedem Fall hinterlassen sie einen bleibenden Eindruck. Sie sind lesenswert.

Jamal Tuschik (Hg.): „Morgen Land. Neueste Deutsche Literatur“. Fischer Verlag 2000, 302 S., 19,90 DMIlija Trojanow (Hg.): „Döner in Walhalla. Texte aus der anderen deutschen Literatur“. Kiepenheuer & Witsch 2000, 224 Seiten, 38 DMElsbeth de Roos, Olav Münzberg, Aldona Gustas, Dieter Straub (Hg.): „Im Zwiespalt. Prosa und Lyrik aus 21 Ländern. 60 Autor/innen. Oberbaum Verlag 2000, 493 Seiten, 42 DMJoachim Lottmann (Hg.): „Kanaksta. Von deutschen und anderen Ausländern. Quadriga Verlag 1999, 175 Seiten, 28 DMUwe Wittstock (Hg.): „Kunst des Erzählens. Zwanzig Abenteuer aus der Gegenwart“. Fischer Verlag 1996, 270 Seiten, vergriffenHedi Shulitz, Wanjiru Kinyanjui, Alexandra Magk (Hg.): „Aufenthalt. Collagen einer Stadt“. Das Arabische Buch 1988, 206 Seiten, 22 DM