Klammheimlicher kultureller Rassismus

Der Gedanke von der Leitkultur wird auch auf Europa übertragen, im Sinne eines jüdisch-christlichen Erbes

In einer Ansprache an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) beschwor Johannes Rau unter anderem die „jüdisch-christlichen“ Traditionen Europas. Auf die Nachfrage aus dem Publikum, ob eine derartige grundsätzliche, sich zu einem religiösen Erbe bekennende Definition nicht überholt sei, antwortete der Präsident mit einem klaren „Nein“: Jemand, der nicht fest auf dem Boden der eigenen Tradition stehe, könne auch nicht tolerant mit Fremden umgehen. Man möge ihn nicht missverstehen: Er sei nicht gegen den Bau von Moscheen in Deutschland. Er wolle aber daran erinnern, dass in Saudi-Arabien schließ- lich auch keine Kirchen gebaut würden.

So leise und leichtfüßig kam das daher, dass das Publikum gar nicht merkte, wie hier der Gedanke der Leitkultur in seiner krudesten Form auf Europa übertragen wurde. Wie bei diesem Konstrukt üblich, wurde Kultur über einen „Kern“ definiert – eben das jüdisch-christliche Erbe. Dieses letztlich auf Herder zurückgehende Konzept begreift Kultur als eine abgrenzbare Erscheinung mit einem Set von zentralen Normen und Werten. Die Problematik dieses dem Gedanken der Nationalkultur verpflichteten und in Fachkreisen überholten Konzepts wurden auch in Raus Rede deutlich. Die Türkei beispielsweise gehört nach diesem Konstrukt eindeutig Europa nicht an – nicht etwa wegen Menschenrechtsverletzungen, sondern weil sie sich nicht zur jüdisch-christlichen Tradition bekennt. Aber auch nach innen werden Grenzen gezogen – etwa gegenüber den Nachkommen der islamischen und der hinduistischen Einwanderer nach Europa.

Die Ungeheuerlichkeiten der Rede Raus blieben nur deswegen so unbemerkt, weil sie mit einem Bekenntnis zur Toleranz verknüpft wurden. So haben Muslime nicht etwa das Recht, Moscheen zu errichten, weil sie dazugehören, sondern wir erlauben es ihnen, weil wir aufgrund unserer festen Verankerung in unserer Tradition in der Lage sind, ihnen weltoffen und tolerant gegenüberzutreten.

In seinem soeben auf Deutsch erschienenen Buch: „Die Macht des Vorurteils“ entfaltet Pierre-André Taguieff den Begriff des kulturellen Rassismus. Seine These: Der Rassismus bedient sich längst nicht mehr hauptsächlich des biologischen Diskurses: Er hat entdeckt, dass seine Grundoperation, nämlich die Menschen in tendenziell unüberschreitbare Klassen einzuteilen und sie dann zu hierarchisieren, genauso gut auf einen Begriff der Kultur zurückgreifen kann. Scheinheilig verkündet dieser Diskurs: Alle Kulturen sind schön – aber doch bitte in ihren jeweiligen Ländern.

Es ist Zeit, die so menschenfreundlich daherkommenden Versuche, eine europäische Leitkultur zu definieren, auf ihre Ausgrenzungsstrategien zu hinterfragen. Die Leitkulturapostel reklamieren für sich, Realisten zu sein. Das Gegenteil ist der Fall. In der Praxis hat sich längst eine europäische Kultur entfaltet, die von der Auseinandersetzung zwischen Alteuropäern und Neueuropäern lebt – und die das europäische Erbe im besten Sinn aufrechterhält, nämlich das der Aufklärung. WERNER SCHIFFAUER