JURISTEN ENTSCHEIDEN, WER DAS NÄCHSTE US-STAATSOBERHAUPT WIRD
: Präsident von Richters Gnaden

Es gibt kaum einen Berufsstand, den die US-Amerikaner mehr verachten als den der Anwälte. Gleichzeitig beneiden sie ihre Juristen aber auch ob ihrer Einkommensmöglichkeiten und charakteristischen Bauernschläue. Derzeit sind hunderte von US-Rechtsgelehrten damit beschäftigt, den Ausgang der Präsidentschaftswahl vom 7. November in die eine oder andere Richtung zu beeinflussen. Angesichts der offenkundigen politischen Interessen beider Kandidaten – Bush will sofort aufhören zu zählen, um seinen dünnen Vorsprung nicht zu verlieren, Gore hofft, aus den bislang für ungültig erklärten Stimmen noch die Mehrheit zu zimmern – wären eigentlich Behörden und Gerichte als neutrale Instanzen gefragt, um nachvollziehbare Entscheidungen zu fällen. Doch die Behörden, allen voran das Innenministerium Floridas mit der selbst ernannten Wahlleiterin Katherine Harris, versagen dabei komplett.

Die Republikanerin Harris agiert so durchsichtig parteipolitisch, dass nicht einmal der Schein aufrechterhalten werden kann. Bleiben die Gerichte. Deren Entscheidungen fielen bislang als Korrektur aus – was daran liegen mag, dass das Oberste Gericht Floridas fast komplett in der Amtszeit des demokratischen Gouverneurs Lawton Chiles nominiert wurde, dem Vorgänger des jetzigen republikanischen Gouverneurs und Kandidatenbruders Jeb Bush. Diese Art der Kohabitation, die den US-Amerikanern auch zwischen Kongress und Weißem Haus gut gefällt, verhindert den Durchmarsch einer Seite – ist aber eine eher zufällige, immer wieder neu herzustellende Konstellation und insofern als Garantie für Rechtsstaatlichkeit und unabhängige Kontrolle wenig geeignet.

Tatsächlich ist das Justizsystem der USA weitgehend politisiert. Die Richter werden – und das recht offen – nach politischer Sympathie von den jeweils Regierenden ausgewählt, oder sie müssen sich selbst unter Offenlegung ihrer politischen Überzeugungen zur Wahl stellen. All das funktioniert normalerweise einigermaßen ausgeglichen, mal liberaler, mal konservativer. In einer Situation wie jetzt jedoch kann das Vertrauen in die Justiz, unverzichtbare Bedingung für ihr Funktionieren und ihre Akzeptanz, nachhaltig Schaden nehmen. Denn wie immer die verschiedenen Gerichte in den anhängigen Wahlsachen entscheiden, sie werden es im Bewusstsein der politischen Auswirkungen tun, dementsprechend unter Druck gesetzt und später danach beurteilt werden. Herauskommen wird dabei ein Präsident von Richters Gnaden. Das kann eigentlich niemand so gewollt haben. BERND PICKERT