Ossis und Wessis auf Vietnamesisch

Ausländer in Berlin: Die vietnamesische Community ist gespalten. Im Westteil der Stadt leben vor allem ehemalige Boat-People, die vor den Kommunisten flohen, im Ostteil ehemalige DDR-Vertragsarbeiter. Dazu kommt ein Generationenkonflikt

von ULRIKE STEGLICH

„Als ich 1968 nach Westberlin kam, hielten mich alle für eine koreanische Krankenschwester – damals waren viele koreanische Krankenschwestern hier, ihre Männer waren Soldaten im Vietnamkrieg. In den Siebzigern passierte es öfter, dass, wenn ich an einer Ampel wartete, Autos anhielten – die Fahrer dachten, ich sei eine thailändische Prostituierte. Und Anfang der Neunziger wurde ich an der Bushaltestelle gefragt, ob ich Zigaretten verkaufe.“ Thuy Nonnemann lächelt dünn. Sie verkauft weder Zigaretten noch ihren Körper. Auch nicht das Parteiprogramm der Berliner SPD, der sie angehört. Thuy Nonnemann ist eine kultivierte, aparte Frau mittleren Alters und stellvertretende Landesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Migration in der SPD, die sie mit aufgebaut hat.

Damals, in Saigon, hatte sie Literatur und Philosophie an der Universität studiert. Bis zum Krieg, als sie das Studium abbrach, um die Familie zu ernähren. Später lernte sie ihren Mann, einen Deutschen, kennen und ging mit ihm nach Westberlin. Politik interessierte sie nicht. „Aber als 1989 die Republikaner ins Abgeordnetenhaus einzogen, hatte ich das Gefühl, wenn ich jetzt nichts tue, darf ich mich später nicht beschweren, wenn wirklich etwas passiert.“ Keine Partei war ideal – die SPD schien ihr noch am passendsten. Nonnemann ist Schönebergerin und arbeitet am Zoo.

Etliche Kilometer weiter östlich, an der Grenze von Lichtenberg zu Marzahn, sieht die Welt völlig anders aus. Im Gewerbegebiet dehnen sich die menschenleeren Wege schier endlos. In einem abgelegenen ehemaligen Betriebsgebäude hat der Verein „Reistrommel“ Quartier bezogen. Hier treffen sich vor allem die Vietnamesen Ost. Und am Samstagnachmittag deren Kinder. Wie die 17-jährige Mai und ihre ein Jahr ältere Freundin Thu Huong. Sie wissen, dass Vietnamese nicht gleich Vietnamese ist. Es gibt Nord- und Südvietnamesen in Berlin. Die vietnamesischen Ossis und Wessis. Die ehemaligen Vertragsarbeiter in der DDR und die „Boat-People“ – jene Flüchtlinge, die Mitte bis Ende der 70er übers Meer vor den Kommunisten flohen, in Westdeutschland ankamen und per Kontingent über das Land verteilt wurden. Ein Teil von ihnen landete in Westberlin. Beide Gruppen haben bis heute ihre Schwierigkeiten miteinander – wenn es überhaupt ein Miteinander gibt. Es gibt Konflikte, sagt Tamara Hentschel vom Verein „Reistrommel“. Es gibt Vorurteile, sagt Mai. Es gibt eine Annäherung, sagt vorsichtig Thuy Nonnemann.

Die Annäherung ist schwierig, weil die Ausgangsbedingungen so unterschiedlich waren: „Boat-People“ kamen als Kontingentflüchtlinge, erhielten sofort Aufenthaltsgenehmigung und Arbeitserlaubnis. Es gab Integrationsprogramme, Sprachkurse, Berufsorientierungen. Sie hatten die Möglichkeit, Fuß zu fassen. Die Vertragsarbeiter kamen mit nur wenig Deutschkenntnissen, verloren nach der Wende ihre Arbeitsplätze in den DDR-Betrieben, mussten um Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis kämpfen. Erst seit drei Jahren wird ihnen die Zeit in der DDR bei der Aufenthaltserteilung angerechnet. „Integration für Vertragsarbeiter war bis 1997 nicht erwünscht“, sagt Tamara Hentschel. Zwar kamen sie oft mit einer guten Ausbildung, aber sie wurden in der DDR nicht in entsprechenden Bereichen eingesetzt. Und die Bundesrepublik erkennt ihre Abschlüsse nicht an. Der Chirurg, der derzeit bei „Reistrommel“ Deutsch lernt, wird in seinem Beruf hier nicht arbeiten können. Vielen blieb nur der Weg in die Selbstständigkeit mit einem Imbiss oder Gemüseladen, oder ein Job im Reinigungsgewerbe.

Die Differenzen zwischen den Vietnamesen liegen aber auch in der Geschichte ihres Herkunftslandes. Westberliner Exilvietnamesen sehen die im Osten als „verlängerten Arm der vietnamesischen Kommunistischen Partei“, vor der sie selbst damals geflüchtet sind. Die ehemaligen Vertragsarbeiter wiederum stehen beim gemeinsamen Neujahrsfest befremdet da, wenn die ehemaligen Boat-People die alte Flagge aufziehen und die alte Nationalhymne singen. Unter den Westberliner Vietnamesen heißt es ab und an, die Zigarettenverkäufer im Osten würden den Ruf der Community ruinieren. Mai und Thu Huong erzählen von kursierenden Vorurteilen: „Von denen im Westen sagt man, sie seien arrogant und verdeutscht. Umgekehrt hält man die im Osten für verklemmt.“ Mai kichert.

„Kackwurst, Kackwurst“, ruft ein kleiner Junge im „Reistrommel“-Kinderspielzimmer einem anderen zu. „Ich bin ein Löwe“, knurrt David zurück und zieht eine Furcht erregende Grimasse. Kackwurst klingt sehr deutsch und akzentfrei, der Löwe auch. In der täglichen Kinderbetreuung des Vereins ist zweisprachige Erziehung vorgesehen. Aber untereinander sprechen die Kinder deutsch. Auch Mai und Thu Huong reden deutsch miteinander, obwohl sie erst vor sechs Jahren aus Hanoi gekommen sind. Und sie sprechen deutsch mit ihren Geschwistern. Mai besucht die Gesamtschule. Als sie nach Berlin kam, musste sie von einem Tag auf den anderen in einer deutschen Klasse zurechtkommen. Thu Huong hatte in Vietnam schon die sechste Klasse absolviert und wurde hier noch einmal in die vierte Klasse zurückgestuft. Jetzt geht sie auf das Gymnasium. Mai will auf alle Fälle das Abitur machen, später „vielleicht etwas mit Mathematik“. Thu büffelt aus eigenem Antrieb viel für die Schule und steht auf Fremdsprachen. Manchmal bedauern beide, nur wenige vietnamesische Freunde zu haben. Nach den Maßstäben der aktuellen Debatte um die Sprachkenntnisse türkischer Kinder und Jugendlicher müssten Mai, Thu und andere vietnamesische Jugendliche als Paradebeispiel gelungener Integration gelten.

Aber dabei wird ein anderes Problem übersehen. Zumindest in der Community der ehemaligen Vertragsarbeiter und Asylbewerber im Ostteil der Stadt zieht ein handfester Generationenkonflikt auf. „Über dem Kampf um das Bleiberecht haben wir diese Entwicklung verschlafen“, sagt Tamara Hentschel. „Die Eltern müssen Zeit haben für ihre Kinder.“ Aber genau die haben viele Eltern nicht. Wer einen Imbiss oder kleinen Lebensmittelladen sieben Tage die Woche, sechzehn Stunden täglich betreibt, um die Familie zu ernähren, der hat wenig Zeit für seine Kinder. Sie werden in der deutschen Gesellschaft sozialisiert.

Der klassische Fall befindet sich gleich um die Ecke: Ein junges Paar mit Baby betreibt einen Gemüseladen. Die Eltern packen morgens um sechs die Waren aus, abends um acht laden sie wieder ein. In nur sehr schwer verständlichem Deutsch erkundigt sich der Vater nach einem Kindergarten in der Nähe. Anders als die türkische Community hat die vietnamesische noch keine eigene Infrastruktur aufgebaut. Das Kind wird also einen deutschen Kindergarten besuchen – und nicht nur besser Deutsch sprechen als die Eltern, sondern auch nur ein rudimentäres Vietnamesisch beherrschen, ein „Selbstbedienungsvietnamesisch“, wie Tamara Hentschel das nennt. Die Folge: Die Kommunikation über Werte, Erfahrungen, Gefühle wird zwischen Eltern und ihren Kindern schwieriger. Schon Thu hat manchmal Probleme, sich ihren Eltern gegenüber genau auszudrücken. Und während die Eltern in den „Reistrommel“-Kursen Deutsch lernen, denkt Thuy Nonnemann schon über Vietnamesisch-Kurse für die Kinder nach.

Hinzu kommt, dass viele Jugendliche unter Druck stehen. Die kleinen Läden sind meist Familienbetriebe. Und von den Kindern wird erwartet, dass sie – neben ihrer Ausbildung – mit anpacken. Mai hat das Problem zwar selbst nicht: Ihre Mutter ist Angestellte, deren deutscher Freund Sozialarbeiter. Aber sie weiß, dass eine ihrer Freundinnen nach der Schule im Laden der Eltern mithilft und abends für die Familie kocht. Zudem erwarten die Eltern von ihren Kindern sehr gute schulische Leistungen – das Lernen hat einen hohen Stellenwert im konfuzianisch geprägten Vietnam. Und schließlich sind die Kinder die Alterssicherung der Familie – in Vietnam ist es die moralische Pflicht der Kinder, für Eltern und Großeltern zu sorgen. Die Eltern wiederum arbeiten hart, weil sie ihren Kindern ein anderes Schicksal wünschen.

Der Druck ist also groß. Doch die Werte und Zukunftsvorstellungen der Kinder sind anders als die der Eltern. Mai und Thu gehen lockerer mit den vietnamesischen Traditionen um. „Wir haben von beiden Gesellschaften etwas.“ Beide sind selbstbewusst genug, um zu sagen: „Wenn Eltern wirklich Wert auf die Zukunft der Kinder legen, dann geben sie ihnen die Zeit für ihre Ausbildung und lassen sie nicht auch noch arbeiten.“ Andere fühlen sich allmählich zerrieben zwischen Schule und Arbeit, zwischen der Verpflichtung der Familie gegenüber und den eigenen Bedürfnissen und Träumen. „Es gibt durchaus Jugendliche, die deshalb von zu Hause weglaufen“, sagt Tamara Hentschel. Möglicherweise wird der Generationenkonflikt den Ost-West-Konflikt lösen – auch wenn sich Mai und Thu in ihrer Freizeit vor allem im Club der „Reistrommel“, am letzten Zipfel von Lichtenberg, aufhalten. Die Kinder werfen sich nicht die vietnamesische Geschichte vor. Der Ausgang des Generationenkonflikts aber ist offen.