Stufen der Blindheit

Die meisten guckten weg. Und viele Linke, die offenen Auges kämpften, verstrickten sich in Grabenkämpfe. Während der argentinischen Militärdiktatur wurden systematisch Babys und Kinder verschleppt. Elsa Osorio hat einen Roman über politische Ahnenforschung geschrieben – „Mein Name ist Luz“

von CHRISTIANE KÜHL

Ein wenig wirkt das Sofa wie ein Dampfer. Ein bauchiger Dampfer, durchaus einladend, aber eben doch von Natur aus nicht für den Personenverkehr gemacht. Besonders nicht für die schmale Person, die jetzt auf der vorderen rechten Kante sitzt. Die hinter und neben ihr verbleibenden Quadratmeter Gemütlichkeit nutzt sie allein für ihr Handy. Eine Art Morsegerät, wie sich im weiteren Verlauf des Gesprächs herausstellen soll. Piep, piep. Piep. „¡Disculpe!“

Elsa Osorio ist eine zierliche Frau. Man würde sie vermutlich fragil nennen, wenn nicht die eingegrabenen Falten um ihren Mund verraten würden, dass selbst starker Gegenwind sie nicht umwerfen kann. Elsa Osorio weiß, wo sie steht, und weiß, wo sie hinwill. Und es ist keine Floskel, wenn die 48-Jährige sagt, dass diese Stärke damit zu tun hat, dass sie weiß, wo sie herkommt. Ganz im ursprünglichen Sinne: wo sie geboren wurde, wer ihre Mutter ist, wer ihr Vater. In ihrem Heimatland ist das keine Selbstverständlichkeit.

Seit zehn Jahren lebt Elsa Osorio in Madrid, arbeitet als Journalistin, Dozentin, Drehbuchautorin und Schriftstellerin. „Es ist gut, weit weg zu sein“, sagt sie, „sowohl was Kilometer als auch den zeitlichen Abstand betrifft. Es hilft, die Ereignisse als ästhetisches Objekt zu behandeln.“ Ja, nach Argentinien reise sie oft. Das Land bildet die Matrix fast aller ihrer Erzählungen und Romane. Ihr Thema aber ist die Identität. Auch in ihrem sechsten Roman „Mein Name ist Luz“, der von einer jungen Frau erzählt, die mit der Geburt ihres ersten Kindes nach ihrer eigenen Herkunft zu forschen beginnt. Das beginnt in Buenos Aires, 1996, und Luz ist 20 Jahre alt.

Als 1976 in Argentinien das Militär putschte, lebte Elsa Osorio noch in ihrer Geburtsstadt Buenos Aires. „Ich war 24 und wohnte mit meinem compañero zusammen. Man kriegte mit, dass Leute entführt wurden – aber nicht, was mit ihnen passierte.“ Was sie aus dieser Zeit erinnert, sagt sie, sei vor allem die Angst; ein Horror, der sich schwer vermitteln lasse. „Als ich diesen Roman zu schreiben begann, merkte ich, dass diese Angst immer noch da ist, und zwar heil. Als hätte sie sich 20 Jahre lang nur versteckt.“ Autobiografisch ist der Roman nicht, auch nicht investigativ; sie habe „einfach aus dem Wissen einer Generation geschöpft“.

Wissen, von dem heute nicht jeder wissen will. Anders Luz, die Protagonistin: „Nicht alles war schlecht, mein Name zum Beispiel. Luz, Licht. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, Licht in dieses Dunkel zu bringen, mir Klarheit zu verschaffen, zu suchen, ohne zu bedenken, welches Risiko für meine Gefühle ich damit einging“, erklärt sie ihrem Vater 1998 in einem Café in Madrid, wo die beiden sich zum ersten Mal begegnen.

Etwa 400 bis 500 Kinder wurden in Argentinien während der Militärdiktatur entführt. Kinder von Oppositionellen, die man nach dem Raub „verschwinden“ ließ. Oder umgekehrt: Von den Linken, die bereits in Lager verschleppt waren, wurden die schwangeren Frauen verschont. Erst nach der Entbindung wurden sie getötet, ihre Babys an kinderlose Militärs verteilt. Die Kinder wuchsen auf bei den Schlächtern ihrer Eltern. Manchen wurde erzählt, ihre Mütter seien Huren gewesen, die sie nicht haben wollten; die meisten aber ahnten nicht einmal, dass ihre „Eltern“ gar nicht ihre leiblichen Eltern waren. Bereits 1977 hatten einige mutige Großmütter auf der Plaza del Mayo nach ihren Enkeln zu fragen begonnen, doch erst lange nach dem Ende der Diktatur 1982, mit vereinzelt einsetzenden Zweifeln der Erwachsenwerdenden, begann eine breitere Ahnenforschung.

Elsa Osorio beginnt ihren Roman mit der ersten Begegnung von Tochter und Vater. An einem langen Nachmittag bis in den späten Abend erzählen sie, komplementieren ihre Versionen der Geschichte. Osorio verzichtet dabei zum großen Teil auf Dialog und arbeitet stattdessen mit Rückblenden. Die Montagetechnik macht die einzelnen Episoden direkter, präsenter – vor allem aber erlaubt sie überraschende Perspektivenwechsel. In dem Netz von Figuren, die mit Luz verbunden sind, folgt die Autorin stets einem anderen Blick – mal als personale, mal als auktoriale Erzählerin – und erarbeitet so über 420 Seiten ein recht komplexes Gefüge von Gedanken, Ideologien und Emotionen. Schuldzuweisungen und Entschuldigungen greifen wie kleine Zahnräder ineinander.

Luz' Mutter ist zur Zeit der Entbindung bereits eine jener 30.000 argentinischen desaparecidos, von denen die wenigsten wieder auftauchen sollten. Ihr Baby wird der Tochter eines hohen Militärs untergeschoben, die am selben Tag eine Totgeburt hatte. Diese Frau weiß nichts von dem Betrug, wohl aber ihr Mann, der ihn aus Angst vor seinem Schwiegervater deckt. Kompliziert wird die Geschichte, als das Neugeborene samt Mutter für die ersten Tage in die Obhut des Generals „El Bestia“ gegeben wird – er hatte das Mädchen nämlich bereits seiner Gattin versprochen, die selbst keine Kinder mehr kriegen kann. Zwischen den beiden Frauen, der Revolutionärin Liliana und der Exhure Miriam, entwickelt sich eine Freundschaft, und noch Jahre nach dem Mord an Liliana versucht Miriam unter Einsatz ihres Lebens, Luz über ihre Herkunft aufzuklären.

Frei von Klischees, sowohl sprachlichen als auch inhaltlichen, ist der Roman leider nicht. Und ein wenig traurig ist es auch, dass es ausschließlich die Liebe ist, die die Verhältnisse zum Besseren wendet; politisches Bewusstsein nützt anscheinend nicht. „Mich interessieren die normalen Menschen, die Kinder ohne heroische Großmütter“, erklärt Osorio. „Meine Protagonisten repräsentieren all die verschiedenen Leute, die von nichts etwas wissen. Was ich wollte, war, Stufen der Blindheit zu beschreiben.“ Natürlich hätten einige offenen Auges gekämpft damals, leider jedoch auch verdammte Grabenkämpfe. „Kommunisten, Montoneros . . . Wissen Sie, ich denke heute nicht mehr, was ich vor 20 Jahren dachte.“ Das Handy piept wieder. Elsa Osorio greift danach. Und da ist es auch wieder, dieses sturmerprobte Lächeln: „Aber ich denke auch nicht das Gegenteil.“

Elsa Osorio: „Mein Name ist Luz“. Aus dem Spanischen von Christiane Barckhausen-Canale. Insel Verlag 2000, 432 Seiten, 49,80 DM