„Der Tod des eigenen Kindes ist das stärkste Stresserlebnis“

Reinhard Tausch, Professor für Psychologie an der Universität Hamburg, über Wahrnehmung und Wirklichkeit sowie die Folgen von traumatischen Erlebnissen im Fall Sebnitz

taz: Folgt man der Staatsanwaltschaft Dresden, dann mehren sich die Anzeichen, dass sich im Fall Joseph die Mordtheorie nicht halten lässt. Müssen wir annehmen, dass Renate Kantelberg-Abdulla lügt?

Reinhard Tausch: Ich kann und will das nicht behaupten. Dazu müsste ich mit Frau Kantelberg-Abdulla intensiv sprechen. Allerdings, das lehrt uns die Erfahrung, gibt es immer wieder Menschen, die an Überzeugungen festhalten, obwohl die Realität eine ganz andere ist. Es kann passieren, dass sich ihre Überzeugung über den Hergang eines Ereignisses, zumal wenn dieses Ereignis von großer Bedeutung für ihr Leben ist, so sehr verfestigt, dass sie sie schließlich für die Wirklichkeit halten. Denken Sie nur an die Aussagen einiger Politiker in der Parteispendenaffäre.

Welche Faktoren begünstigen eine solch verzerrte Wahrnehmung von Wirklichkeit?

Stress und subjektiv empfundene Bedrohung sind eindeutig Faktoren, die zu einer Versteifung der Haltung führen können.

Was heißt das im konkreten Fall?

Der Tod des eigenen Kindes ist für Frauen das stärkste Stress-, das stärkste Traumaerlebnis. Das sollte jeder berücksichtigen, der Frau Kantelberg-Abdulla zu verstehen sucht. Ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit ist: Mein Sohn ist von Rechtsradikalen ermordet worden, und ich will das aufklären.

Lässt sich die Wahrheit unter diesen Umständen noch herausfinden?

Es kommt auf die Bedingungen an, unter denen dieser Versuch der Wahrheitsfindung erfolgt. Auf beiden Seiten – sowohl auf der der Ermittlungsbehörden als auch auf der der Mutter – muss die Aufgeschlossenheit für neue Fakten bestehen, die Bereitschaft also, die jeweilige Überzeugung möglicherweise zu korrigieren. Das geht aber nur in vertrauensvollen Gesprächen unter Schweigepflicht. Es muss klar sein, dass beispielsweise die Mutter weder bewertet noch verurteilt würde, sollte sie ihre Meinung korrigieren.

Sind Vernehmungsrichter und Staatsanwälte die dafür geeigneten Personen?

Vermutlich wäre es sinnvoll, Psychologinnen mit hinzuzuziehen.

Gilt das auch für die Bewertung der Glaubwürdigkeit der Zeugen?

Ich denke, ja. Wir wissen im Moment weder, warum die Zeugen die Aussagen gemacht haben, noch, aus welchen Gründen sie sie später zurückgezogen haben. Denkbar ist vieles: Vielleicht wollten sie der Mutter helfen. Vielleicht hat auch einfach die große Überzeugung der Mutter sie beeindruckt. Inzwischen haben sie möglicherweise eingesehen, dass es doch anders war. Oder sie haben gesehen, dass andere Menschen wegen ihrer Aussage verurteilt werden könnten, und haben sich gesagt: Das will ich nun auch wieder nicht.

Eine solch offene Diskussion zu führen setzt ein Klima der Toleranz voraus. Haben Sie nach den Presseberichten der letzten Tage den Eindruck, dass dieses Klima in Sebnitz gegeben ist?

Ich habe den Eindruck, dass die seelische Situation von Frau Kantelberg-Abdulla, auch in der Stadt, sehr schwierig ist. Die Menschen sollten berücksichtigen, dass diese Frau ihr Kind verloren hat. Sebnitz könnte ein Beispiel geben, indem es die Mutter und ihre Familie jetzt nicht verstößt.INTERVIEW: HEIKE HAARHOFF