Wer braucht hier Spenden?

Lesart eins: Renate Kantelberg-Abdulla hat der Stadt Schaden zugefügt. Lesart zwei: Renate Kantelberg-Abdulla hat an der Stadt Schaden genommen

„Ich wünsche mir, dass Menschen mittrauern, darüber, wie man im Fall des Joseph Abdulla Menschen vorverurteilt hat.“

aus Sebnitz HEIKE HAARHOFF

Von ihrem Eintritt in die SPD erfuhren die sozialdemokratischen Stadtverordneten aus Sebnitz erst, als der Unterbezirk ihnen mitteilte: Bei der anstehenden Kommunalwahl werde es eine weitere Kandidatin geben. Doch die „Etepetete“ aus Wessiland, die schnippisch werden konnte, wenn man ihren für Sächsische-Schweiz-Verhältnisse komplizierten Namen Kantelberg-Abdulla falsch schrieb oder vergaß, dass sie einen Doktortitel besitzt, entpuppte sich als Shooting-Star. 490 Stimmen holte die Besitzerin der Center-Apotheke, die erst Ende 1995 nach Sachsen gekommen war, das beste SPD-Ergebnis in jenem Sommer 1999 in der Großen Kreisstadt Sebnitz, 10.000 Einwohner stark.

Ihre Kunden bescheinigen der Apothekerin „hohe Fachkompetenz“ und „freundliche Beratung“. „Aber glauben Sie nicht, dass sie auf mich zugekommen wäre, um sich vorzustellen“, sagt Stefan Müller, der einzige Sozi, der neben ihr den Einzug in den Stadtrat schaffte. Geschweige denn, dass sie nach den Ratssitzungen auf ein Bier oder zwei mitgekommen wäre.

Lieber ließ sie sich von ihrem Mann abholen, einem Doktor der Pharmazie, „einem gebürtigen Iraker“, wie in der Stadt betont wird. Lieber verwendete sie ihre Zeit darauf, auf die rechtsradikale Bedrohung durch die Glatzen auf dem Marktplatz hinzuweisen. Lieber ließ sie Detektive ermitteln, dass konkurrierende Apotheker und Ärzte betrügerisch handelten. Und als es um den Notausgang der Grundschule ging, der einen halben Quadratmeter ihres angrenzenden Grundstücks in Anspruch genommen hätte, da beschied sie knapp: nein.

Renate Kantelberg-Abdulla hat sich in Sebnitz nicht nur Freunde gemacht, und das nicht erst, seit vor eineinhalb Wochen Bild titelte „Neonazis ertränken Kind“ und der ungeklärte Tod des sechsjährigen Joseph Abdulla, der im Juni 1997 im Freibad von Sebnitz ertrank, die Republik erschütterte.

Aber diesmal, das stand für die meisten Sebnitzer fest, diesmal hatte sie übers Ziel hinausgeschossen. Diesmal war die Frau, die immer unbequem und daher suspekt erschienen war, die Frau, die während des Golfkriegs im Irak lebte und sich nach ihrer Flucht nach Deutschland mit ihrer irakisch-deutschen Familie für einen Wohnort entschied, der nicht eben von Multikulturalität geprägt war, diesmal war sie einen Schritt zu weit gegangen: Anstatt sich damit abzufinden, dass Polizei und Staatsanwaltschaft ihren Verdacht, Joseph könne gewaltsam um sein Leben gebracht worden sein, mit kleinstem ermittlerischem Ehrgeiz und über Jahre als fixe Idee einer verzweifelten Mutter abtaten, zog Renate Kantelberg-Abdulla auf eigene Faust los. Beschaffte Zeugen, die ihre These stützten und widerriefen, nur, da waren die Aussagen schon ungeprüft als Wahrheit verkündet worden. Beauftragte medienerprobte Anwälte. Schaltete Deutschlands größte Boulevardzeitung ein.

Sie hat Methoden angewendet, die man nicht in Ordnung finden muss: Ihren ehemaligen Vermieter, der ihr den Vertrag kündigte, beschimpfte sie öffentlich als „Mörder“. Den Eltern eines Jungen, der ihren Joseph tot im Schwimmbecken gefunden hatte, versuchte sie das Sorgerecht entziehen zu lassen. Die Staatsanwaltschaft konnte die Namen von Verdächtigen teilweise den Medien entnehmen, vorgetragen von Renate Kantelberg-Abdulla. Kann da schon einmal in Vergessenheit geraten, dass die übereilten Haftbefehle immer noch von einem Richter ausgestellt wurden? Kann da ausgeblendet werden, dass das Nichthinnehmbare, der unbemerkte Tod eines Kindes in einem vollen Schwimmbad, dreieinhalb Jahre später immer noch nicht aufgeklärt ist?

Es kann, es wird, und es ist richtig so, zischelt es jetzt in Sebnitz. Jetzt, da sich die Hinweise mehren, dass Joseph womöglich doch nicht Opfer eines Verbrechens wurde. Jetzt, da Renate Kantelberg-Abdulla nach kurzer Abwesenheit als Gefangene in ihrem eigenen Haus zurückgekehrt ist, geschützt von Polizisten. Jetzt, da gegen sie selbst wegen der Anstiftung zur Falschaussage ermittelt wird, jetzt, da es so einfach geworden ist, sie auszulachen, wenn sie weiterhin beteuert: „Mein Sohn wurde ermordet, und ich werde das beweisen.“ Jetzt, wo man den über Jahre angestauten Hass über sie auskübeln kann: „Die gehört abgeschoben“, „die hatte doch schon immer ihr Feindbild“.

Was aber getan wurde, dieses Feindbild abbauen zu helfen, diese Frage stellt sich hier nicht. Kann vielleicht auch nicht, weil das, was Renate Kantelberg-Abdulla als feindlich empfindet, in Sebnitz so nicht wahrgenommen wird. Wenn die Glatzen in die „Gut-und-Billig-Kneipe“, kurz „GuBi“, am Markt hereinschneien und den hinteren Raum gern für sich hätten, „dann sind das doch wohl ganz normale Gäste, die wir selbstverständlich bedienen“, sagt die Kellnerin. Wenn Männer nachts durch Sebnitz grölen „Auf dem Rasen liegen Leichen“, dann sind das bloß Betrunkene, denen man vieles nachsehen muss. Wenn der Verdacht besteht, dass ein Kind möglicherweise ertränkt wurde, dann fällt dem evangelischen Pfarrer ein, die mangelnde Aufsichtspflicht der Eltern zu rügen, und dem katholischen, sich über die schlechte Behandlung zu beklagen, die den Sebnitzern widerfährt: „Ich wünsche mir, dass Menschen deutschlandweit und darüber hinaus mittrauern, darüber, wie man im Fall des Joseph Abdulla Menschen vorverurteilt hat.“

Der Oberbürgermeister von Sebnitz, Mike Ruckh, immerhin hat sich mittlerweile ein Herz gefasst und die Familie Kantelberg-Abdulla am Freitag besucht. Seine anschließende Botschaft an die Presse: Die Familie habe „bedauert“, dass die Einwohner von Sebnitz „pauschal verurteilt“ wurden. Na also. Im Übrigen sei eine geplante Lichterkette gegen Gewalt und Fremdenhass aus Angst vor Ausschreitungen abgesagt, dafür aber ein Spendenkonto für Sebnitz eingerichtet worden. Um den „materiellen wie immateriellen Schaden“ für die Stadt in Grenzen zu halten. Und nicht für diejenigen, die in dieser Stadt Schaden genommen haben.