Ganz unten in Wilmersdorf

Die Untersuchung oder Der Untergang des Hauses Kohl, Teil 12
von DAVID WAGNER

Wieder und wieder wälzte er sich auf seinem Bett hin und her, träumte, er sei nicht mehr Bundeskanzler und ein anderer bewohne das genau auf seine Maße zugeschnittene neue Bundeskanzleramt im Spreebogen.

Er stöhnte und schreckte schweißgebadet auf. Um ihn herum war alles dunkel, bei jeder kleinsten Bewegung raschelte es. Er machte Licht, und alles fiel ihm wieder ein. Er lag in seiner Wilmersdorfer Abgeordnetenwohnung, und der Alptraum, der ihn seit Monaten jede Nacht überfiel, war nicht nur ein Traum.

Er fing an zu weinen und griff sofort nach einer Tafel Nussschokolade, die sich unter seinem Kopfkissen leicht angewärmt hatte. Er kratzte die weiche Masse aus dem Silberpapier, schmierte sie sich in den Mund und wischte die Hände an der Bettdecke ab. Sein Tagebuch, in dem er sonst die Namen belgischer und Schweizer Schokoladenfirmen gesammelt hatte, lag seit Wochen unberührt auf seinem Nachttisch, schon seit fünf Wochen hatte er nicht mehr eingetragen, wie viele Tafeln er geschafft hatte.

Der letzte Eintrag sagte achtzehn Tafeln, dreimal Mandel-Krokant, elfmal Nougat und viermal Zartbitter. Er griff sich vom Nachttisch eine bissfeste Tafel Cremeschokolade, riss sie auf und schob sie sich in den Mund, stöhnte, schluckte und stöhnte wieder. Er liebte den Geschmack der fettigen Masse zwischen Gaumen und Zunge. Ein Täfelchen schaffte er in zwei Bissen. Das Schokoladenpapier warf er zu all den andern auf den Boden.

Seit der Sache mit dem Untersuchungsausschuss hatte niemand mehr aufgeräumt. All die Ratten haben mich verlassen, entfuhr es ihm plötzlich, er wollte wieder weinen und spürte dann doch nur diese riesige, unbezähmbare Wut in sich. Früher hatte er in dieser Stimmung Walter oder Peter verprügelt. Oder Lore geschlagen. Und nun, vor fünf oder sechs Wochen war auch Juliane gegangen und hatte ihm nichts als sechstausend Tafeln Schokolade dagelassen.

Dabei hatten wir einander versprochen, in der letzten oder vorletzten Nacht zu heiraten, schluchzte er in sein vor sich hin brabbelndes Selbstgespräch hinein. Er versuchte vergeblich, sich aus dem Bett zu schälen, erst als er mit der Fernbedienung das Kopfteil des Bettgestells elektrisch hochfahren ließ, konnte er seinen Oberkörper aus dem Bett wuchten. Wie schön, wie einfach ist doch alles in Bonn gewesen, sagte er, er sehnte sich zurück, zurück in seinen Bungalow. Und an den Rhein.

Jetzt lag er in dieser kleinen Wohnung in Wilmersdorf, und immer, wenn er aufschrie oder nur ein klein wenig durch die Wohnung polterte, klopfte die Frau, die unter ihm wohnte, mit dem Besenstiel an die Decke. Sie klopft an meine Decke, brüllte er, stört mich, den Bismarck des zwanzigsten Jahrhunderts, den Schmied der deutschen Einheit, den größten Staatsmann Europas.

Ich wäre der Präsident der vereinigten Staaten von Europa geworden, schrie er und riss drei übereinander liegende Tafeln Vollmilchschokolade auf und stopfte sie sich auf einmal in seinen Mund. Nicht einmal Hannelore ließ sich mehr quälen. Sie muss irgendeinen andern haben, brüllte er und trat gegen sein aus Stahlträgern zusammengeschweißtes Bettgestell. Unter den Bächen von kaltem Schweiß, die von seiner Schulter herab durch das Schokoladenpapier auf dem Boden in den Teppich tropften, wurde ihm kühl. Er zog seine alte, schokoladenverschmierte Strickjacke über, deren Nähte an den Schultern aufgeplatzt waren. Lange her, dass ich sie zuknöpfen konnte, sagte er sich, streichelte zärtlich über die Maschen und erinnerte sich an die Tage im Kaukasus.

Mein Freund Michael, durchfuhr es ihn, ich werde einfach meinen Freund Michael anrufen, der wird mir helfen. Fieberhaft suchte er zwischen den Schokoladenkartons nach seiner dicken Telephonkladde. Er warf vier Kartons Trauben-Nuss vom Schreibtisch, schleuderte die Packung Herrenschokolade hinunter und fand schließlich seine bräunlich beschmierte Kladde. Michael wird mir helfen, sagte er sich wieder, hat der Russe nicht auch Friedrich den Großen in letzter Minute gerettet?

Das letzte Mal, fiel ihm ein, hatte er ihn im Kino gesehen. Der Film war doch von diesem Wum Wendelin, Michael spielte sich selbst. Wieso durfte ich da eigentlich nicht mitmachen?, fragte er sich, entdeckte aber, bevor er zu einer Antwort hätte kommen können, unter dem Buchstaben G seines aufgeschlagenen Telephonverzeichnisses den Namen Geißler.

Angeekelt warf er die Kladde sofort auf den großen Haufen, der sich in der Zimmerecke aus Schokoladenpapier und verklebten Schokoladenresten gebildet hatte, wie ich ihn hasse, brüllte er, wie ich ihn hasse, weil er mich hasst, dabei habe ich ihn einmal zum Minister gemacht, wie ich ihn hasse, brüllte er wieder und wieder, bis sein Brüllen in ein Schluchzen überging und sein Weinen sich in ein Wimmern verwandelte.

Er heulte sich aus, stieß noch einige sonderbare Laute aus und sagte, als hätte er schon Zuhörer: Na wartet, ich bin mit euch noch nicht fertig. Er schob zwei Tafeln mit ganzen Haselnüssen ein, blies die Backen auf, verzog sein Gesicht wieder und schrie: Ich bin noch nicht zu Ende. Ich muss sofort meinen Freund Ronald anrufen, rief er, ich werde ihm sagen, die Kommunisten sind einmarschiert, er müsse Deutschland sofort bombardieren, es gehe nicht anders. Ich werde ihm sagen, ich sei der Letzte im Bunker, ich sag ihm einfach: Die Russen sind da, überall sind Russen, sage ich ihm, und er wird alles in Asche bomben, der gute Ronald, Deutschland soll mit mir oder gar nicht sein, schrie er auf, riss eine Tafel Mokka-Sahne auf, stopfte sie sich in den offenen Mund und wühlte dann unter den leeren Pralinen- und Schokoladenpackungen des Müllhaufens nach seiner Kladde.

Ronald, Ronald, wie hieß der noch? War das nicht dieser Schauspieler? Der, der immer diese Cowboyfilme gedreht hat?, murmelte er und sagte sich, komisch, schon wieder ein Schauspieler. Schauspieler. Politiker, Schauspieler, brabbelte er vor sich hin, schob sich ein Stück Schokolade in den Mund, sagte Schauspieler, Staatsmann – und schrie plötzlich, wobei ihm einige Schokoladenbröckchen, die sich in den Rissen seiner riesigen Zunge festgesetzt hatten, davonspritzten: Ich hab’s, ich werde Schauspieler und werde mich spielen, ich werde mich, mich selbst, den größten und mächtigsten Staatsmann Europas, den Einiger Deutschlands, den Wiedererichter des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, spielen, ich werde Hof halten auf Hannelorenhall, Blüm und Geißler und Süssmuth und die andern Zwerge werde ich als Komparsen quälen, vielleicht auspeitschen lassen.

Und ich werde das Café Kranzler, das sie mir weggenommen haben, wieder aufbauen lassen, so wie es war. Und ich werde da wie früher meinen Kuchen essen. Vor Begeisterung fing er an zu tanzen, der Staatsmann tanzt, rief er, warf das Schokoladen- und Silberpapier durcheinander, und wie Konfetti rieselten und glitzerten die ersten Szenen der großen Film- und Fernsehproduktion, an die er dachte, ihm durch den Kopf, er sah sich am Tag von Bitburg, sich Händchen haltend mit dem französischen Zwerg in Verdun, mit Ronald vor dem vermauerten Brandenburger Tor, mit Michael im Kaukasus und den großen Empfang und den Jubel in Halle.

Damals haben sie mir sogar die letzten Eier, die sie noch hatten, zugeworfen, jauchzte er. Er freute sich und tobte, bis er wieder das Pochen von unten hörte. Er hob seine Kladde vom Boden auf, blätterte hin und her und fand, gleich neben Gorbatschow, einen Namen, neben dem Juliane eine Notiz hinterlassen hatte. Er wusste, das war sein Mann. Hier war sein alter politischer Instinkt, das war der Mann, den er brauchte, am Telephon würde er ihn überrumpeln können. Am Telephon kann ich sie alle haben, brüllte er, lachte auf und nahm einen Bleistift, um zu wählen.

Seit er nur von noch Schokolade lebte, waren seine Finger zu dick für das Zahlenfeld seines Tastentelephons. Es war vier Uhr zwölf am Morgen, bei Gossel klingelte das Telephon.

Von David Wagner erschien zuletzt der Roman „Meine nachtblaue Hose“ im Alexander Fest Verlag