Lektion in Bürgerrechtskunde

Die juristische Hängepartie um den nächsten US-Präsidenten hat das Bewusstsein der Amerikaner für ihr politisches System geschärft

von PETER TAUTFEST

Nina Gerson hat demokratisch gewählt, ihr Boy Friend Pedro Bello republikanisch. Beide standen Händchen haltend in der Warteschlange, die sich vor dem Zählzentrum in Palm Beach gebildet hatte: „Das hier ist Geschichte“, sagt Nina, die heute ihren Fortbildungskurs schwänzt, „ich musste das unbedingt sehen. Alle Schulen sollten frei haben und die Kids herschicken, das hier ist Bürgerrechtskunde live.“ Pedro Bello, ein Business Man aus Palm Beach, nickt. Als vor ziemlich genau einem Monat das Dilemma von Amerikas unentschiedenem Wahlausgang deutlich wurde, fehlte es nicht an Spott. Kuba und Kongo boten Wahlbeobachter an, und die Frage wurde aufgeworfen, wie eine derartige Wahl bewertet würde, hätte sie in einem Land der Dritten Welt stattgefunden. Vom Bürgerkrieg weit entfernt aber wurde in den USA selbst die Entscheidung des offenen Wahlausgangs – nach Impeachment und Elian-Drama – zur leidenschaftlich verfolgten und bisher lehrreichsten nationalen Seifenoper.

Endlich mal die „Federalist Papers“ lesen

John Feeney ist aus New Hampshire gekommen. Neben ihm steht Barbara Kanke aus Kalifornien. Beide standen 32 Stunden in der Washingtoner Kälte an, um einen der wenigen Plätze bei der Anhörung vor dem Supreme Court zu ergattern. In der langen Schlange, die sich halb um das Gerichtsgebäude windet, wird lebhaft über die Verfassung debattiert. „Ich wollte schon immer mal die Federalist Papers lesen“, sagt Feeney, jene Sammlung von 85 Aufsätzen, die Alexander Hamilton, James Madison und John Jay zwischen 1787 und 1788 geschrieben haben, um einer föderalen Verfassung das Wort zu reden. Hier, beim Schlangestehen, hatte er ausreichend Zeit.

„Damit das Böse weitere vier Jahre regiert“

Amerika absolvierte einen kollektiven Fortbildungskurs in Staatsbürgerkunde mit wechselhafter, aber weit gehend aufmerksamer Beteiligung. Wer es nicht wusste oder vergessen hatte, erfuhr, dass es den Präsidenten nicht direkt und nicht in einem landesweit einheitlichen Verfahren wählt; es lernte, dass die Kompetenzen von Bundesparlament und Länderparlamenten, Landesgerichten und Bundesgerichten, Landes- und Bundesverfassung wie ein Mobile ausbalanciert sind, dass es kein verfassungsmäßig verbrieftes Wahlrecht gibt, dass die über zweihundert Jahre alte Verfassung eine komplizierte Mischung aus rousseauscher Demokratie und Rechtsstaat ist, die den Willen von Mehrheiten gleichermaßen zum Ausdruck bringt und einschränkt, die die Herrschaft der Mehrheit sichert und deren Tyrannei verhindern will – und dass die alte Verfassung möglicherweise moderner Verfassungswirklichkeit ebenso angepasst werden muss wie die alte Wahltechnologie der gewachsenen Wahlbeteiligung.

Diskussion und Lektüre werden allerdings, je näher die Wartenden dem Eingang zum Gericht kommen, von verkleideten Demonstranten unterbrochen, die als Darth Vader „Fürs Weiterzählen“ eintreten, „damit das Böse weitere vier Jahre regiert“, oder, als Schmetterlingswahlzettel verkleidet, sich über die Verwirrung mokieren.

Die Verhandlungen aus den Gerichtssälen in Washington und Tallahassee wurden von mehreren Radio- und Fernsehstationen teilweise live übertragen und hatten Einschaltquoten wie sonst nur Footballspiele. Ängstlich maßen Demoskopen den Puls der Nation. Ergebnis: Die Nation ist geduldig und daran interessiert, dass die Wahl fair entschieden wird. Selten ist in der Geschichte der Demokratie eine Wahl derart umständlich und zugleich offen vor aller Augen entschieden worden. „Ich bin beruhigt, dass ich das gesehen habe“, sagt Becky Moorhead, die eigentlich aus Tallahassee nach Palm Beach gekommen ist, um gegen das Nachzählen zu protestieren. „Ich bin jetzt beruhigt, dass da nicht betrogen wird.“

Was an Demonstrationen vor Zählstellen und Gerichten stattfand, war gleichermaßen leidenschaftlich und friedlich, phantasie- und humorvoll. Das Maß an Ranküne kam an die Konfrontationen während und nach europäischen Fußballspielen nicht einmal entfernt heran. Verletzte sind bisher im Nachwahlkampf nicht zu beklagen.

Der Präsident wird es schwer haben

Das heißt nicht, dass sich die Reihen hinter dem Sieger schließen werden. Wer auch immer letztlich ins Weiße Haus einzieht, wird den Makel der Illegitimität tragen. Mit einem ziemlich akkurat gesplitteten Kongress dürfte es der Präsident mit dem Regieren schwer haben. Aus den ambitionierten Reformplänen, die beide Kandidaten versprochen haben, aus der dringend notwendigen Reform der Renten- und Krankenversicherung sowie der amerikanischen Schulen dürfte nicht viel werden. Konnte schon Bill Clinton nicht viel ändern – sein Nachfolger wird es da noch schwerer haben.