Das Auto meines Großvaters

Eine Kurzgeschichte von Falko Hennig

Meine Mutter holte mich ins Wohnzimmer, eigentlich musste ich zur Schule, ich hatte die Mappe schon auf dem Rücken. „Es ist etwas Schlimmes geschehen“, sagte sie und sah aus dem Fenster, „in der letzten Nacht ist Opa gestorben.“

Jetzt müsste sich der Himmel verfinstern, die Zeit einen Augenblick stehen bleiben, aber die Uhr tickte weiter, als wäre nichts geschehen. Ich sah neben das Regal, wo ein Farbfoto in einem schmalen goldenen Rahmen hing. Der alte Mann darauf war Opa, er stand, die Hand auf das Blech eines weißen Autos gelegt.

Stolz blickte er auf das Fahrzeug und irgendwie nachdenklich, als wäre unter der Fahrzeughaut ein Geheimnis verborgen. Die grünen Sträucher am Rand des Bildes waren schon etwas braun vergilbt.

Ich erinnerte mich nur wenig an meinen Großvater, den Vater meiner Mutter. Auf der verglasten Veranda hatte er gesessen. Der alte Mann hatte meine Nase gefasst, dann seinen Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt und mir die Hand hingehalten. Ich hatte nicht verstanden, was der alte Mann meinte. „Deine Nase, ich habe deine Nase“, hatte er gesagt, und ich hatte immer noch nicht verstanden, was er meinte.

Ich ging zur Schule, Opa war gestorben in der vergangenen Nacht. An einige wenige Besuche erinnerte ich mich, aber Opa hatte immer im Bett gelegen. Nur einmal war er noch mit aufgestanden. Dünn war er gewesen, und das weiße Haar auf seinem Kopf hatte wie Flaum ausgesehen. Er hatte ein Glas Rotwein getrunken an seinem letzten Geburtstag, viele kleine Falten hatten sich dabei auf der hellen Haut in seinem Nacken gebildet. Jetzt war er tot.

In der Schule versuchte ich unaufmerksam zu sein, so dass die Lehrerin mich fragen würde: „Henry, was ist denn nur mit dir los?“ Und ich antworten könnte: „Entschuldigung, aber in der Nacht ist mein Opa gestorben.“ Doch niemand fragte, und ich bemerkte schon während der ersten Stunde, dass ich immer seltener daran dachte.

Nach der Schule zu Hause hörte ich ein eigentümliches Pfeifen, dann das blubbernde Motorengeräusch. Ein weißes Auto fuhr in die Einfahrt, es war das Auto von dem Foto, hinten hatte es kreisrunde Rücklichter. Darin saß mein Vater: „Kommt, steigt ein! Wir machen eine Probefahrt!“ Der Vordersitz wurde ganz herumgeklappt, nicht wie beim Trabbi nur die Lehne. Ich stieg nach hinten, Mutter setzte sich neben Vater. Der Motor war viel lauter als der vom Trabbi, das Tachometer war waagerecht, wie die Senderskala eines Radios.

Wir fuhren über die Walter-Rathenau-Straße, die Potsdamer Straße an der Schwimmhalle vorbei. Der Blinkschalter war ein Kippschalter in der Mitte vom Armaturenbrett. Im Gegensatz zum Trabant, in dem es zur Erinnerung grün blinkte und hörbar knackte, gab es beim Sapo eine solche Warnung nicht: Mein Vater vergaß mehrere Male, den Blinker wieder abzustellen.

„Seit wann hatte Opa den Wagen?“ fragte Vater. „In den 50er Jahren hatte er in der Zeitung gelesen: In Saporoshje wird ein neues Autowerk gebaut“, sagte meine Mutter, „die schlug er auf den Küchentisch und sagte: ‚Das Auto will ich haben!‘ Und es dauerte Jahre und Jahre, bis sie das Werk dort gebaut hatten, noch mehr Jahre, bis sie dann die ersten Autos produzierten. Und es dauerte weiter Jahre, bis sie Saporoschs in die DDR einführten.“

Mutter schien vergessen zu haben, was sie sagen wollte, schaute auf die Straße, als müsste hinter der nächsten Straßenbiegung die sowjetische Automobilbauerstadt auftauchen. „Der hat aber ziemlich wenige Kilometer runter“, sagte Vater, „oder ist der Tacho schon einmal rum?“ Meine Mutter antwortete nicht, sondern fuhr einfach fort: „Jahre später fragten sie Großvater, ob er endlich einen haben wollte. Er hatte seine Anmeldung auf einen Saporosch schon seit zehn Jahren. Aber da hatte er in der Zeitung gelesen, dass ein neues Modell geplant sei. Das wollte er und nicht das alte. Und dann dauerte es weiter Jahre und Jahre. Und vor vier Jahren bekam er den Wagen, aber er durfte nur noch wenige Monate fahren. Dann war er zu alt.“

Wir mussten anhalten und wenden, eine neue Straße wurde gebaut. Kompanien der NVA waren damit beschäftigt. Das Dach des Klubhauses wurde neu gedeckt, sah ich noch auf der Rückfahrt, die Häuser der Hauptstraße neu verputzt, Rasen gemäht, Sperrholzwände aufgerichtet und mit Transparenten versehen.

Ein arabischer Diktator wird kommen, erklärte mein Vater, er wusste es aus dem Autowerk, gemeinsam mit Erich Honecker. Im Werk würde alles geputzt, die Gardinen gewaschen, die Reifen der auf dem riesigen Lagerplatz stehenden Lkws mit schwarzer Farbe gestrichen, selbst der Rasen würde mit grüner Farbe nachbehandelt. Männer vom Geheimdienst mit langen Stangen, sagte Vater dann noch, schlügen das Laub von den Bäumen, damit kein im falschen Moment fallendes Blatt die Feierlichkeit einer Lkw-Vorführung störe.