NACH DEM GAU IST VOR DEM GAU: WESTLICHE ATOMPOLITIK IN DER KLEMME
: Maschina stoi!

Heute, erst 15 Jahre nach dem größten anzunehmenden Unfall in der AKW-Geschichte, wird der letzte Reaktor des ukrainischen Atomkraftwerks Tschernobyl abgeschaltet. Darauf haben westliche Nachbarländer jahrelang hingearbeitet und letztlich auch den absurdesten Preis bezahlt: den Neubau von Reaktoren. Nur kurz vor dem „Maschina stoi!“ bewilligte die EU-Kommission mehr als eine Milliarde Mark, um zwei Reaktorruinen als Ersatz für Tschernobyl fertig stellen zu lassen.

Und so ist es immer: Während sich der Westen auf das Symbol Tschernobyl konzentriert, laufen ähnliche Reaktortypen nicht nur unbehelligt, sondern sogar mit westlicher Unterstützung weiter. So existieren in Osteuropa noch vier aktive Atomkraftwerke des russischen Tschernobyl-Typs mit 13 Reaktoren. Hinzu kommen zahlreiche andere Varianten, die aber auch nicht viel ungefährlicher sind. Trotz verbesserter Sicherheitsstandards passieren immerzu klitzekleine, angeblich unbedeutende, fast nicht gemeldete Restrisiko-Unfälle. Es sind hunderte pro Jahr. Die meisten dieser Zeitbomben stehen in Russland; dazu gehören aber auch das AKW Ignalina in Litauen und Bohunice in der Slowakei.

Nicht dass sich die Politiker sich nicht für dieses erhebliche Restrisiko interessierten – aber sie haben die Verantwortung inzwischen abgeschoben: auf den Nuklearen Sicherheits-Fonds (NSA) der Osteuropabank in London, der die westliche AKW-Politik koordiniert. Nach Tschernobyl brauchte es noch acht Jahre, bis der Westen diesen Fonds überhaupt aufgebaut hatte. Und seitdem sieht sich der Westen in einem unlösbaren Dilemma verstrickt. Der Fonds finanziert technische Aufrüstungen, um die Sicherheit der gefährlichsten AKWs zu gewährleisten – um sie gleichzeitig langfristig stillzulegen. Ein widersprüchliches Ziel, von dem allerdings viele profitieren: die Firmen, die an der Sicherheitstechnik verdienen, die Empfängerländer, die dringend benötigtes Geld erhalten, und das Gewissen der Geberländer, die sich nicht politisch verrenken müssen, um den Osten zu einer anderen Energieerzeugung zu überreden.

Ungelöst bleibt dabei auch, dass technische Verbesserungen in Osteuropa nicht das Gleiche sind wie Sicherheit. Denn was nützt der teure Notschalter, wenn ihn ein AKW-Arbeiter auf dem Flohmarkt verramscht, weil er seinen Lohn nicht regulär erhält. An diesen unsicheren Zuständen haben die osteuropäischen Regierungen sogar ein Interesse: Liefern die AKW-Bomben doch erfreuliches Erpressungspotenzial. Her mit dem Geld – dann schalten wir vielleicht weiter ab. MAIKE RADEMAKER