Ein Buch von Knie zu Knie wachsen lassen

■ Neue Mönchsleseskulptur im Ernst-Barlach-Haus: Ein Plädoyer für gemeinsame Erkenntnissuche und Versöhnung über Religions- und Altersgrenzen hinweg?

Das Buch ist die Brücke – das heißt: Es kann eine werden, wenn der ältere Mönch das Angebot des jüngeren annimmt: Ein paar Zeilen zu lesen in jenem Kompendium, das Ernst Barlach in seiner Skulptur Lesende Mönche III so suggestiv von Knie zu Knie wachsen lässt und das die beiden Mönche verbinden könnte, die in der Bronzeskulptur von 1932 vereint sind und die die Stif-terfamilie dem Ernst-Barlach-Haus jetzt – neben einer Bronzemaske – gestiftet hat. An das gotische Motiv des sitzenden Christus und Johannes lehnt sich die Konstellation an, eine Konstellation, die im Mittelalter vor allem im Bodenseeraum zu finden war.

Eine biblische Deutung hält Sebastian Giesen, Leiter des Museums im Jenischpark, aber für abwegig: „Barlach soll die eine der Figuren als griechischen, die andere als tibetanischen Mönch bezeichnet haben“, berichtet Giesen; warum, wisse aber niemand genau. „Vielleicht wollte Barlach bloß eine biblische Deutung ausschließen, vielleicht auch zwei disparate Religionen zusammenfügen, um auf den allgemeinen Gehalt der Skulptur zu verweisen.“ Denn die gemeinsame Suche nach Erkenntnis sei das zentrale Thema der Lesenden Mönche, das Buch für Barlach stets wichtigster Erkenntnismvermittler gewesen, wie auch bei der Skulptur Lesender Klosterschüler zu beobachten ist.

Doch so universell, wie es auf den ersten Blick scheint, wirkt das Buch bei dieser Skulptur zunächst nicht: Zwei sehr unterschiedliche Mönchstypen hat Barlach hier geschaffen, dessen jüngerer – gelehrt, vielleicht weise und jedenfalls in sich ruhend – den skeptischen älteren mit auf die Reise durch das Kleingedruckte nimmt, ohne zu wissen, wie das Abenteuer enden wird. Aber Missionsdrang bewegt den Jüngeren auch gar nicht, ebensowenig, wie sich der Ältere explizit ablehnend gibt: Fremd ist ihm, was der Freund ihm zeigt – und doch hat Barlach Verbindendes suggeriert: Denn ganz klar ist nicht, wo der Ärmel des Jüngeren endet und der des Älteren beginnt; ungewiss ist auch der Verbleib der zweiten Hand und des zweiten Fußes des Jüngeren; sind sie unterm Gewand des Älteren verschwunden?

Wie auch immer: Eine offene Situation hat Barlach hier geschaffen, die Frage nach dem Ausgang der Lektüre nicht beantwortet, nur vielleicht soviel andeuten wollen: Möglichkeit und Bedeutung gemeinsamer Erkenntnissuche über Religions- und Altersgrenzen hinweg. Petra Schellen