Für die EU aufgetischt: Zahlensalat Niçoise

Weil die französische Präsidentschaft sich auf dem Gipfel von Nizza bei der Bestimmung der „qualifizierten Mehrheit“ verrechnet hat, müssen Brüsseler Beamte jetzt nachsitzen und neu über die Stimmverteilung nachdenken

BRÜSSEL taz ■ Was würde geschehen, wenn das Matheabitur eines ganzen Jahrgangs wiederholt werden müsste, weil der Prüfer – geschwächt durch Magengrippe – einige Zahlen verwechselt hätte? Wütende Schüler würden gegen diese Entscheidung protestieren, ganz sicher.

In Brüssel trafen sich gestern die Ständigen Vertreter der EU-Mitglieder zum Nachsitzen, ohne dass das Murren zu hören gewesen wäre. Sie brüteten über den Zahlen, die ein vergrippter französischer Präsident in der Nacht von Nizza in die Welt gesetzt hatte: 258 von 345 Stimmen sollen in einer EU der 27 Mitglieder als qualifizierte Mehrheit gelten. Das entspräche – so steht es im „vereinbarten vorläufigen Text“ – 73,4 Prozent aller Stimmen. Um herauszufinden, dass das nicht passt, braucht man kein Abitur. 258 von 345 sind 74,8 Prozent – damit läge die Schwelle weitaus höher als heute, wo 71,3 Prozent gebraucht werden.

Zum 1. Januar 2005 soll der neue, in Nizza beschlossene, Stimmenschlüssel eingeführt werden. Sollten dann noch nicht alle 12 Bewerberstaaten beigetreten sein, „wird die qualifizierte Mehrheit einem Prozentsatz entsprechen, der unter dem derzeitigen Prozentsatz liegt.“ So der Vertragstext.

Auch das ist falsch. Selbst wenn zu diesem Zeitpunkt kein einziges neues Mitglied zur Union gehört, beträgt die qualifizierte Mehrheit 170 von 237 neu gewichteten Stimmen – und das sind 71,72 Prozent.

Nun mag die Feststellung, dass in der zermürbenden Atmosphäre dieses EU-Gipfels mancher Teilnehmer die Übersicht verlor, von anekdotischem Wert sein. Auch die Tatsache, dass nur die Engländer einen rechentauglichen Computer mitgebracht hatten, aus dem sie alle anderen mit Zahlen fütterten, gehört eher zu den Kuriositäten von Nizza. Die politische Zielrichtung aber, die hinter den widersprüchlichen Zahlen steckt, ist gravierend.

In einer Union, die im Vergleich zu heute ihre Mitgliederzahl fast verdoppelt haben wird, besteht die Gefahr, dass sich noch mehr als bisher die gegensätzlichen Interessen blockieren. Deshalb sollte der Vertrag von Nizza dafür sorgen, die Entscheidungen zu vereinfachen. Herausgekommen ist das Gegenteil.

Bislang konnten 2 der 4 Stimmenschwergewichte – zum Beispiel Deutschland und Italien – mit 9 kleineren Ländern die qualifizierte Mehrheit erreichen. Mit Abschluss der Erweiterung müssen sich 2 Große mit 17 Kleineren einig sein, um etwas zu bewegen – eine komplizierte Koalitionsbildung.

Was aber weitaus schwerer wiegt: Künftig reicht es nicht mehr aus, die geforderten Stimmen zusammenzubringen. Zusätzlich muss die Mehrheit der Mitgliedsstaaten und die Mehrheit der EU-Bevölkerung rechnerisch hinter der Entscheidung stehen – dreifach hält besser. Außerdem wurde die Schwelle für die Sperrminorität drastisch gesenkt. 91 Stimmen werden dafür nach der Erweiterung gebraucht – wenn 4 größere Länder sich absprechen, reicht es schon.

„Damit kann man den Laden abschließen“, kommentiert der EU-Parlamentarier Elmar Brok die Konsequenzen des Nizzaer Zahlensalats. Auch beim Finanzplanungsgipfel im März 99 in Berlin habe hinterher kein Regierungschef sagen können, was in der langen Nacht eigentlich beschlossen wurde. Aber die finanzielle Vorausschau gelte nur bis 2006 – danach gebe es eine Chance, die Versäumnisse auszubessern. In Nizza aber sei ein grundsätzlich falscher Ansatz in einer dauerhaften Strukturfrage zementiert worden – „die haben in einer einzigen Nacht das Ding kaputtgemacht.“

DANIELA WEINGÄRTNER