Cabo Verde – Heimat der Emigranten

Fallengelassen im Atlantik: die Kapverdischen Inseln. Von verde, grün, fast keine Spur: Die Inseln sind karg, auf Entwicklungshilfe und Importe angewiesen. Fast ein Drittel der Cabo Verdes müssen irgendwo auf der Welt ihr Geld verdienen

Die Grammatikà la Creòle ist einfach: Es gibt keine Vergangenheit und keine Zukunft, und irgendwie stimmt das.

von AXEL HANNEMANN

„Saudade, Saudade“, haucht der Riese in das Mikrofon, das er mit seiner Rechten hält, seine Linke krampft sich an sein Herz, der Oberkörper ist tief gebeugt, so als ob er Magenkrämpfe hätte. „Mi patria“, röchelt er. Man könnte fast um sein Leben fürchten. Wenn er sich kurz aufrichtet, erkennt man seine ganze Größe. 120, 130 kg mag er wiegen, ein Koloss im Vergleich zu den Einheimischen, die eher Spuren von Unterernährung zeigen. An seiner cowboyhaften Kleidung ist unschwer zu erkennen: ein Emigrant zu Besuch in der Heimat. „Saudade“, haucht er noch einmal und beendet schweißgebadet seinen Gesang.

Die Einheimischen in dem kleinen Restaurant springen auf, klatschen, jubeln, liegen sich in den Armen, klopfen auf seine breiten Schultern, während er verschämt eine Träne wegwischt. Er hat ihnen allen aus dem Herzen gesungen. Von den Touristen eher zaghafter, höflicher Applaus, den Seelenschmerz des Heimkehrers konnten sie nur mit Staunen verfolgen. Doch der ist hier vertrautes Gefühl: Von den über eine Million Cabo Verdes leben höchstens ein Drittel in der Heimat.

Wie eine Mondstation liegt der internationale Flughafen auf einer steinigen Hochebene. Schnell wird der Besucher ins 15 km entfernte Santa Maria gebracht, dem Touristenzentrum von Cabo Verde. Hotel reiht sich an Hotel am feinen Sandstrand. 100 bis 150 DM kostet das Doppelzimmer, im Städtchen kann man in Residencials auch für ein Drittel wohnen, allerdings in der Kategorie „null Sterne“, eine Herausforderung für jeden Abenteurer. An der Hauptstraße von Santa Maria gibt es Fisch satt: frischer Fisch, gebraten, gekocht und vom Grill, Thunfisch, Hai, alles was das Meer hergibt. Wer die rachitischen Hühner auf den Müllhalden hinter dem Dorf gesehen hat, wird beim Fisch bleiben. Ein Genuss: der Thunfisch Carpaccio im „Pescadero“.

Alles andere hat eine weite Reise hinter sich, das Wasser aus Spanien, der Reis aus China und selbst die Pommes frites schmecken irgendwie deutsch. Der Salat, eher eine karge Dekoration, könnte etwas mehr Entwicklungshilfe gebrauchen. Am Wochenende spielen die einheimischen Bands ihre melancholischen Lieder der Morna, die am ehesten mit dem portugiesischen Fado zu vergleichen sind.

Die Umgangssprache ist Creòle, eine Mischung aus Portugiesisch und afrikanischen Dialekten, für die es kein Wörterbuch gibt. Aus dem portugiesischen „Escudo“ wird umgangssprachlich der caboverdische „Schkut“ . Die Grammatik à la Creòle ist denkbar einfach: Es gibt keine Vergangenheit und keine Zukunft, und irgendwie passt das zu den Cabo Verdes. Nirgendwo kann man besser alles vergessen und einfach nur da sein.

Für die unternehmungshungrigen Touristen haben die Hoteliers die übliche Angebot parat: Segeln und Windsurfen bei konstanten Windstärken 5 bis 6 und Tauchen oder Hochseeangeln. Im Winter sind die Temperaturen moderat bei 23 Grad, im Sommer mutiert der unvorsichtige Gast bei 40 Grad im Schatten, den es kaum gibt, leicht zu einem Grillhühnchen. Aber wer fährt auch schon im Sommer in die Sahelzone. „Scheißneger, Scheißneger, Scheißneger.“ Politisch nicht korrekt, beleidigend, ehrenrührig und erst recht kühn in einem Land, in dem 98 Prozent der Bevölkerung schwarze Vorfahren haben. Bernd, Anfang 40, Deutscher, vor 10 Jahren wollte er eine Weltumsegelung machen und landete schließlich auf São Vincente, einer Insel im Westen. Seit zehn Monaten betreibt er in Mindelo, der zweitgrößten Stadt des Landes, manche sprechen von „der heimlichen Hauptstadt“, ein Dachterrassenrestaurant am Hafen. Immer wieder wird ihm der Strom abgestellt, was zur Folge hat, dass Fisch und Fleisch in seinen Kühltruhen verderben. „Ich hab die Stromrechnung bezahlt“, schwört er, „aber mein Nachbar, dieser Scheißneger, zahlt nicht, und da stellen sie auch bei mir den Strom ab. Zum fünften Mal in drei Monaten. Was nutzt es mir, wenn sie sich hinterher entschuldigen. Alles Afrika hier.“

Mit dem letzten Satz hat er Recht. Cabo Verde ist der westlichste und kleinste Staat Afrikas, aber trotz der unterschiedlichsten Nationalitäten, die hier ihre Spuren hinterlassen haben, angefangen von Portugiesen, Engländern, Marokkanern, über US-Amerikaner, Russen und Chinesen, die Wurzeln stammen aus Afrika, von schwarzen Sklaven, die nach Amerika verschifft werden sollten und hier hängen geblieben sind. Heute leben auf Cabo Verde Schwarze mit blonden Haaren und blauen Augen, Menschen mit Hautfarben in jeder Schattierung.

Mindelo, mit seinem riesigen Naturhafen, war Unterschlupf für Seeräuber, Kohleversorgungsstation für die Überseefrachter und Militärstützpunkt im Zweiten Weltkrieg. Heute, wo die Kohlebunker und Militärblöcke keine Rolle mehr spielen, wartet Mindelo auf eine neue Chance. Nachts erwacht die Stadt in den Clubs und kleinen Cafés. Fast jeden Abend gibt es Konzerte, und die meisten der kleinen Häuser, die im Kolonialstil erbaut sind, haben einen Laden, der auf Wunsch zur Kneipe wird.

Alles auf São Vincente drängt sich nach Mindelo. Die kahlen Hügel und die wasserlose, steinige Landschaft verschrecken nicht nur Touristen. Unvorstellbar, dass hier vor 20 Jahren noch Mais und Bohnen gewachsen sein sollen. Die Fischereikooperative, die in den Zeiten des Sozialismus in Baia das Gatas (Strand an der Ostküste) gegründet wurde, hat längst aufgegeben. Ihre Häuser zerfallen. Dafür entstehen Wochenendhäuschen der wohlhabenden Mindelos, die zum Baden kommen. Der Sandstrand von São Pedro (Südwesten), der in der Einflugschneise des kleinen Flughafens liegt, würde in keinem deutschen Reiseführer Erwähnung finden. Mindelo ist kurzweilige Durchgangsstation mit angenehmer Musik und gutem Essen, der Brückenkopf nach Santo Antão.

Santo Antão ist die grüne Insel. Frank und Suzy, zwei Weltenbummler aus Deutschland, ihr Leben lang unterwegs auf der Suche nach paradiesischen Nischen, haben sich hier niedergelassen. „Wir sind wohl ein Dutzendmal zu spät gekommen, aber diesmal sind wir zu früh da“, sagt Frank. In Tarrafal, an der Westküste von Santo Antão, sind sie auf ihrer Weltumseglung hängen geblieben – vorerst. Tarrafal ist eine grüne Küstenoase, die vor sechs Monaten weder Elektrizität noch eine Straßenverbindung hatte. Auf den ersten Blick denkt man an das Valle Gran Rey auf Gomera. Grüne Terrassen, ein immer wasserführender Fluss in der Mitte des Tals und ein schwarzer Sandstrand, eingerahmt von hohen, kahlen Bergen. Die Fischer schlafen am Strand oder auf den Booten, die Bauern leben in kleinen Häusern, aber auch in diesem Nirgendwo gibt es eine Schule. Dafür hat die vor fünf Jahren abgewählte sozialistische Regierung gesorgt. Frank und Suzy haben sich ein Haus gebaut, aus Stein mit einem Schilfdach, und sie bauen weiter, kleine Häuschen mit Toiletten und Dusche mit europäischem Standard für Freunde und Touristen. Die blauen Fensterläden erinnern an Kreta.

Katzen und Hühner springen hinterm Haus herum, eine echte Idylle. Ab und zu schaut ein schwarzes Gesicht durch die Tür, die Kinder aus dem Ort, bloß mal sehen, ob alle noch da sind. Aber es war ein langer steiniger Weg. Die Begegnung „Europe meets Africa“ hatte, nach der ersten Euphorie, nicht nur sprachliche Probleme. Die Kloschüssel, die Dusche und andere Kleinigkeiten hatten die beiden Deutschen mit ihrem Segler transportiert, nur der Zement, den die Fähre bringen sollte, kam nicht. Nicht dass er gestohlen wurde, nein, irgendjemand hat ihn irgendwie vergessen. Und so dauerte die Aktion Hausbau nicht drei Wochen, sondern neun Monate.

Plötzlich Aufruhr am Strand, alles rennt, stürzt in die Boote, schleppt ein Netz. Keine 20 Minuten später haben Kinder, Junge und Alte eine Bootsladung voll Fisch an Land gebracht. Ausgelassene Stimmung. Jeder marschiert mit ein paar Fischen nach Hause, der Rest wird eingesalzen. Auch Frank und Suzy bekommen Fische ab, einfach so, weil sie da sind. Gut zwei Drittel des Fangs hätte verkauft werden können, aber die Fahrt ins ferne Mindelo lohnt nicht. Taraffal, das Paradies, in dem es bis zum Jahr 2000 noch keinen Fernseher gab.

Außergewöhnlich, beeindruckend – das sind die Attribute für die Ribeira do Paul, ein Tal auf der Ostseite der Insel mit tropischer Vegetation, mit Kokos- und Dattelpalmen, mit Lotus-, Lavendel- und Camablüten, mit Mandel-, Papaya-, Orangen- und Zitrusbäumen. Ein Muss für jeden Trekkingfan, aber auch für normale Wanderer ist der Abstieg vom 1.100 m hohen Covo-Krater zum Meer in fünf bis sechs Stunden zu bewältigen.

Sabine lebt seit 20 Jahren in der Ribeira do Paul, mitten in einer Bananenplantage. Ihr Haus ist ein kleiner, zweistöckiger Betonbau. Unten lebt sie mit ihren fünf Kindern, die zwei Zimmer oben sichern ihr ein bescheidenes Einkommen. Ihr ehemaliger Lebenspartner, der Aussteiger Alfred Mandl, ist hier Kleinunternehmer im sanften Tourismus. Die ehemalige Berliner Krankenschwester kann sich nicht vorstellen, wieder in ihre deutsche Heimat zu ziehen. Der Ausblick von ihrer Terrasse über die untere Ribeira ist beindruckend. Das subtropische Grün, das sich bis zu den Bergrücken hochzieht, ist einzigartig auf den Cabo Verdes.

Cabo Verde, der Name scheint ein Missverständnis zu sein. Fachleute argwöhnen, gemeint war ursprünglich das „grüne Cap“ von Dakar und Cabo Verde sind die Inseln hinter dem grünen Cap, das immerhin 450 km entfernt ist. Aber vielleicht war vor 500 Jahren, als die Inseln entdeckt und besiedelt wurden, alles ganz anders.