Zur Elfenstunde auf der nördlichen Insel

Falls Sie zum Jahreswechsel hier bleiben, können wir Sie beruhigen. Woanders ist es nicht immer schöner, in Reykjavík zum Beispiel

von BARBARA SCHAEFER

Wie ein nasser Lappen an der Wäscheleine hängt Island am Polarkreis. Auf dieser Insel wohnt ein seltsames Volk. Nein, nicht die Elfen und Trolle, wir reden von den Isländerinnen und Isländern. Sie zahlen für ein Bier zwölf Mark und für eine Pizza Margherita 25 Mark. Man kann auf Island vorzüglich essen, aber man muss nicht: Es gibt eingelegte halbe Schafsköpfe, Fischhaschee mit Schwarzbrot, Walcarpaccio und fermentierten Hai. Letzterer sieht harmlos aus wie Käsewürfelchen, riecht wie Ajax Glasrein und ist das grausligste Lebensmittel, das man sich vorstellen kann – bis man mit Brennevin nachgespült hat. Der behauptet, isländischer Aquavit zu sein, aber der Markenname Swarta Döden trifft es beser. Schwarzer Tod. Das Merkwürdigste aber ist, wie sie Silvester feiern.

Am frühen Abend des 31. Dezember herrscht in den Straßen Reykjavíks Stimmung wie an Allerheiligen. Ist die Party schon vorüber? Gilt hier der republikanische Kalender? Oder zählt man bei Edda und Odin noch anders? Nein, aber den Silvesterabend beginnt der Isländer am heimischen Esstisch. Gegen neun Uhr flanieren am Ufer des rabenschwarzen Meeres Menschen. Kollektiver Verdauungsspaziergang? Bald geht den Ratlosen ein Licht auf, ein großes sogar: Das Jahr wird mit Feuern verabschiedet. Wer auf einer Insel wohnt, auf der er mit Vulkanausbrüchen rechnen muss, mag da nicht kleckern. Der Riesenstapel aus Euro-Paletten, alten Booten und Kabelrollen lodert himmelhoch und heizt gewaltig. Silvestermäßig ist es allerdings ein Strohfeuer, danach wird’s wieder still. Sie haben Hunger, möchten ins Warme? Das Silvestermenü im Hotel lehnten sie vorschnell ab, wer konnte auch ahnen, dass Restaurants am 31. Dezember die Küche kalt lassen? Versuchen Sie’s im Kaffi Reykjavík, das hat Erbarmen und geöffnet; „Dinner for one“ können Sie hier wörtlich nehmen. Hummersuppe und Berglamm sind nicht zu verachten, aber die große Sause ist das nicht.

Um elf Uhr ist draußen plötzlich der Teufel los, ein Stau wälzt sich Öskjuhlid hinauf, von diesem Hügel hat man einen fantastischen Blick über Reykjavík. Doch so unberechenbar wie ein Vulkanausbruch ist der Isländer Lust am Feuerwerk: Bereits um halb zwölf dekorieren sie den Himmel mit Feuerwerk, wie das Endlosmuster einer Island-Wollpullover-Strickmaschine wabert es farbig über Schwarz. Völlig durchgeknallt. Eine geschlagene Stunde geht das so, unglaublich – ermüdend. Böllerbegleitendes Aah! und Ooh! wird zu Aha und Mhm. Nun aber zurück in die Stadt, endlich ins gelobte Nachtleben. Was hat man nicht davon alles gehört.

Die Isländer entwickelten beim Feiern Latino-Temperament! Die Straßen Reykjavíks brodelten wie Lava! Zwischen Austurstraeti und Vesturgata, den Straßen mit der größten Kneipendichte Islands, ist niemand unterwegs. Thor noch mal, wo sind sie denn jetzt wieder alle? Haben die gefeiert, während wir auf dem blöden Hügel standen oder was? Gaukur á Stöng wirbt mit dem Satz, schon ein Pub gewesen zu sein, als in Island Bier noch verboten war. Also seit 1989. Jetzt ist es drinnen hell und leer, davor stehen ein paar Männer und ein Feuerschlucker. Es muss ein Zeitloch geben, einen schwarzen Krater auf dem Atlantischen Rücken; auf diesem nassen Lappen am Polarkreis muss es ein Loch geben, das in der Silvesternacht seine Bewohner verschluckt.

Dann aber: Wie Phönix aus der Asche steigen sie empor. Bekleidet wie an einem Sommerabend in St. Tropez flanieren zauberhafte Mädchen über die Straße. Sie tragen Nylons, Riemchen-Sandalen und bis zum Popo geschlitze Kleider mit Spagettiträgern. Die jungen Männer bedecken sich mit dunklem Tuch. Im Solon Islandus tanzt man zu den schrägen Lieder der Postpunkerin Magga Stina. Im Irish Pub röhrt eine Drei-Mann-Band gegen autarke Trinklieder auf zwei Stockwerken an, im Kaffi Reykjavík spielt eine Combo Beatles und ähnlich Älteres, am langen Tresen halten sich ein Seemann aus Kroatien und ein eleganter Isländer mit europäisch verbrüdertem, stieren Blick fest. Im Astro tanzt man Techno auf Glasboden und im Rex steht man herum.

Alle Anwesenden sind derart schwarz gekleidet und blasiert und sagen mit jeder Geste: Ja genau, bei uns ist es keinen Deut anders als in SoHo und am Prenzlberg, dass es schon wieder – tut uns Leid – ein bisschen provinziell ist. Bis zur Morgendämmerung, wird kolportiert, ging diese Silvesterfeier – am 1. Januar schiebt sich die Sonne gegen elf Uhr über den Horizont. Ohne Hast schlendert Reykjavík ins neue Jahr.

An den ersten Werktagen ist Inventur, das wird zelebriert als wäre es der Feiertag eines katholischen Heiligen, St. Inventur. Winzige Boutiquen schließen zwei Tage zum Warenzählen. In der Altstadt ist Reykjavík das Gegenteil von Island, nämlich furchtbar putzig. Puppenstubenhäuser in Pastell demonstrieren einen trotzigen Willen zum Heimeligen, während der Rest der Insel dem Besucher eine Landschaft vor die Füße knallt, die sich gewaschen hat (es regnet ja gerne mal), die einen umhaut (es regnet selten lange, weil der Wind alles weiterbläst), die einem den Boden unter den Füßen wegzieht (alles fließt unter der Erdkruste, die hier so dünn ist wie andernorts das Eis auf Winterseen).

Die Verbindung aus beidem, aus Kindergemüt und Ungestüm, Nettigkeit und Urgewalt heißt Björk. Islands Punk-Pop-Star gastierte – im Nationaltheater. Die roten Plüschsessel sind schon fast alle besetzt, da kommen die letzten Konzertbesucher. Es ist der isländische Präsident Olaf Ragnar Grimsson mit Familie; als wäre Queen Mom hereingeschritten, erheben sich die Björk-Fans geschlossen von ihren Plätzen, sind das Manieren für einen ordentlichen Punk?!

Am Ende der Reise sitzt man in 38 Grad warmem Wasser in einem Freibad, lässt sich von starken Düsen den Nacken massieren. Nebenbei flanieren junge Leute im Badeanzug pitschnaß von einem Außenbecken zum andern, am Polarkreis. Und dann sitzen sie, genauso entspannt, in den Hot Pots, in 45 Grad brodelndem Wasser, während der Wind pfeift, dass das Thermalwasser Wellen schlägt. Dann hecken sie wieder aus, was sie in einem Jahr machen, in der Elfenstunde, zwischen Silvester und Neujahr.