Das Siechen der Kassen

Am 31.12. wird abgerechnet: Die traditionellen Krankenkassen zählen, wie viele junge Mitglieder abgewandert sind und wie hoch ihre Defizite sein werden

BERLIN taz ■ Wenn die Chefs der großen deutschen Krankenkassen in die Zukunft blicken, sehen sie ein großes schwarzes Loch. Denn künftig werden sie immer weniger Geld ausgeben können. Aber nicht die Ärzte haben das Geld eingesackt. Die Kassen der gesetzlichen Versicherung leiden an chronischem Einnahmeschwund.

In Massen sind ihnen in den vergangenen Monaten die Mitglieder davongelaufen. Wie viele gewechselt haben, wird sich am letzten Tag des Jahres zeigen. Am 31. Dezember ist Zähltag. Schätzungen gehen von 1,5 Millionen Wechslern aus, die sich von den großen Kassen abwenden und zur preiswerten Konkurrenz, meist kleine Betriebskrankenkassen, wandern. Allein für die Allgemeine Ortskrankenkassen (AOK) rechnet deren Verbandssprecher, Udo Barske, „unterm Strich mit 270.000 Wechslern“. Die Wanderer sind meist jung und selten krank. Als Ausgabenfaktor spielen sie kaum eine Rolle, als Einnahmequelle eine umso größere. Ihr Abgang reißt beunruhigende Löcher in die Kassenetats. Erste Kassen reagieren bereits mit Beitragserhöhungen. Die AOK Bayern wird ihre Beiträge zum 1. Januar um 0,5 Beitragspunkte auf 14,2 Prozent anheben. Die AOK Hamburg legt um 0,4 Punkte auf 14,5 Prozent zu. Hamburgs AOK-Chefin Karin Schwemin geht davon aus, im kommenden Jahr 2.700 Mitglieder weniger betreuen zu dürfen. An der Beitragserhöhung seien aber nicht allein die Wechsler schuld, betont Schwemin. Ihre AOK werde im kommenden Jahr 40 Millionen Mark mehr als bisher ausgeben müssen. Vor allem für den Finanzausgleich unter den Kassen. Im Jahr 2001 müssen Westkassen ihren Ablegern im Osten stärker als bisher unter die Arme greifen.

Nach Jahren der Beitragsstabilität könnte der Schritt der beiden AOKs andere zur Nachahmung ermuntern. Allen Beteuerungen von Gesundheitsministerin Andrea Fischer (Grüne) zum Trotz, die noch vor wenigen Wochen versichert hatte, auch im kommenden Jahr die Beitragssätze stabil zu halten.

Seit 1996 dürfen Versicherte ihre Kasse einmal im Jahr zum Stichtag 31. Dezember wechseln. Junge Gutverdiener gehen gern, Geringverdiener, Ältere und chronisch Kranke hingegen bleiben ihrer Kasse treu. Eine kostspielige Klientel. Die Verliererkassen versuchen zwar, die Abtrünnigen zu halten, doch diese „Rückwerbegespräche“ zeitigen nur in bescheidenem Rahmen Erfolg. Der DAK etwa gelingt es bestenfalls jeden Zehnten zurückzuholen. Die Kasse registrierte im vergangenen Jahr 142.000 Wechsler.

Anderen Ersatzkassen geht es auch nicht viel besser. Selbst die versnobbte TK mit ihrem extrem hohen Anteil an freiwillig versicherten Bestverdienern (37 Prozent) schneidet bei der Jagd auf Gesunde nicht mehr blendend ab. 1999 wurden noch 64.500 neue Mitglieder verbucht, in diesem Jahr rechnet die Pressereferentin mit maximal 10.000 Neuzugängen. Alle großen Kassen werden derzeit gerupft. ANNETTE ROGALLA