Jemand mit Eigenschaften

Nur als ein Stehender bleibt er aufrecht, auch wenn er einmal gefallen ist. Außenminister Fischer hat die bekannten Brüche in seiner Biografie – das ist durch und durch modern. Warum wird ihm nun ein so ödes und integres Menschenbild vorgehalten?

von PETER FUCHS

„Ich weiß nicht, ob Sie es wussten . . .“, so beginnt Rüdiger Hoffmann seine Zeitdiagnosen. Die Raffinesse dieses Satzes besteht darin, dass er nicht fragt, sondern die nur angedeutete Möglichkeit zu einer Frage parasitär ausnutzt: für die Erlaubnis, reden und zwar trotzdem reden zu dürfen. Das ist also ein kommunikativer Trick, der in diesen Tagen häufig angewandt wird: „Ich weiß nicht, ob Sie es wussten, dass Herr Fischer in fernen Tagen ein gewaltbereiter, ja Gewalt einsetzender Täter seiner Taten war, ein Quasiterrorist, ein Prügler der Polizei, ein Verfassungsfeind, ein Monstrum aus den Gefilden der Nichtbürgerlichkeit, und jetzt, da Sie es wissen, obwohl Sie es schon lange hätten wissen müssen, wird Ihnen klar sein, dass er ist, was er war, und dass er nicht bleiben kann, was er ist.“

So wird die Gelegenheit geschaffen, sich auf bayerisch, sächsisch oder sauerländisch öffentlich aufzuregen. Das ist nicht weiter interessant, weil ein Beobachter das, was da gesagt wurde, längst schon zuvor hätte aufschreiben können. Es war wie immer nichts Gescheites, also Überraschendes zu erwarten. Die Glaubwürdigkeit der Erregung krankt daran, dass die Gründe für die Erregung bekannt sind. Es besteht kein Anlass, im Blick auf diese Gründe in die Tiefe zu loten, und wenn man es doch täte, käme das Abgründige des Abgrunds zum Vorschein, ein kurioses Menschenbild, das – immer wieder aufs Neue verblüffend – zu Beginn des dritten Jahrtausends die klare Kontinuität der Person unterstellt, eben: Du bist, was du warst. Der Mensch hat, diesem Bilde zufolge, eine dauerhafte und durchgehaltene Identität, die sich beschädigen lässt. Er ist ein Jemand mit Eigenschaften, die man loben oder tadeln kann.

Menschen ohne Mitte

Ich will nicht damit hadern, dass diejenigen, die so denken, zwei Jahrhunderte der Auseinandersetzung über dieses Bild verschlafen haben müssen; auch nicht damit, dass selbst bei fehlender Lektüre der Arbeiten von Freud, Foucault, Derrida, Luhmann oder von Kafka, Joyce, Broch, Musil (um nur ein Minimum zu nennen) die soziale Wirklichkeit schnell darüber belehrt, dass die Einheit der Person gesprengt ist, fragmentiert, wie die Romantiker gesagt hätten, alles andere als zentriert um einen cor et punctus der Person, um eine integre (und deswegen desintegrationsfähige) Mitte. Man kann natürlich, zum Beispiel in Volkshochschulen, verzweifelt nach diesem Zentrum suchen, es herbeischreien, herbeiatmen wollen, sogar, wie man neuerdings hört, durch Bauchwackeln das Gehirn so stimulieren, dass es womöglich sein Selbst findet, aber allem Anschein nach ist wenig Gelingen damit verbunden, sondern nur die fortwährende Stimulation von Zahlungen für einschlägige Versprechungen.

Was ich zu bedenken geben möchte (weil ich nicht weiß, ob Sie es wussten), das ist die Ödnis des Menschenbildes, das Herrn Fischer entgegengehalten wird. Was ist hier der Mensch? – Er ist dauerhaft brav, ein immerfort ordentlicher Mensch, der sich die Abweichungen verbietet, die das Leben allenfalls auch offerieren könnte. Zwar könnte man meinen, dass gerade in der Abweichung die Chancen zur Individualisierung stecken, denn nicht umsonst interessieren sich die Dichter eher für den Ehebruch als für die Ehe, für jedes Scheitern, das mit Verve geschieht, mehr als für die Repetition der Bravheitsmuster, die für ein gebremstes, auskömmliches Leben erforderlich sind. Und nicht umsonst zelebrieren die Massenmedien Abweichungsverstärkung, wenn sie über die Unfälle und nicht über die Nichtunfälle berichten. Aber der Bürger, um den es hier geht, gewinnt seine stille Würde in seinen durchgehaltenen Intentionen, und so kann er seine Würde verlieren wie Prof. Unrath.

Jener Mensch (dieses Bildes) ist staatsnaher Staatsbürger. Er klopft an, bevor er ein Amtszimmer betritt. Er echauffiert sich nicht, und wenn, dann exerziert er ein Cooling-down: die Dienstaufsichtsbeschwerde post festum. Heute verfertigt er wahrscheinlich Leitbilder, und er kann es tun, weil er Vorbilder kennt.

Vom Kohlhaas hat er gelernt, dass es sich nicht schickt zu zürnen und sich aufzubäumen, und wenn er dies nicht gelesen hat, so haben ihn die Achtundsechziger in ihren massenmedialen Reflexen darüber belehrt. Er hat Charakter, was ja nichts weiter bedeutet, als dass er nicht aus seinem Bilde springen kann. Nicht springen zu können, das ist, glaube ich, die schärfste Beschreibung eines politischen Konservativismus, wie er sich (allegorisch oder symbolisch?) ausdrückt in Leuten, die in wilder Jugendbewegtheit auf Fahrrädern mit Hilfsmotor um sauerländische Imbissbuden kreisten. Hier gibt es keine Obsessionen, keine Lebensbrüche, höchstens die Backstage kleiner sexueller Aberrationen, die milde toleriert werden. Es ist im Übrigen schön, dass ein Soziologe meinen kann, Konformität sei der üble Grenzfall abweichenden Verhaltens selbst.

Es ist klar, dass – dieses still fungierende Bild vorausgesetzt – eine ganze Semantik abgerufen wird, die die Kontinuität des Menschen aufruft: einmal Täter, immer Täter, einmal Gewalt, immer Gewalt, vor allem aber: die Semantik des Dazu-Stehens. Er (dieser Fischer) muss dazu stehen. Nur als ein Stehender bleibt er aufrecht, auch wenn er einmal gefallen ist. Öffentliche Bekundungen von Scham und Zerknirschung werden erwartet, die wirkliche Contritio, die echte Reue, die aber (auch das ist raffiniert) schon immer und klassisch den Zweifel weckt, den sie zerstreuen soll. Auch das gefallene Mädchen blieb gefallenes Mädchen, und sollte sie nach dem Fall auch virginal (und womöglich ziemlich gelangweilt) bis ans Ende ihrer Tage gelebt haben. Aber ist das Mädchen denn gefallen? Ist Fischer gefallen?

Lauter Verwickelspiele

Dieses Menschenbild (das es rechts wie links gibt) schreibt den Leuten ein Sein zu, und es ist verletzt, wenn es entdecken muss, dass seine Zuschreibung grotesk war, weil sich lebendige Leute verwickeln und verstricken in das Spiel ihrer Zeit und keineswegs sind, was sie gestern waren. Schröder rüttelte an den Toren des Kanzleramtes, immerhin, aber man wird nicht sagen können, dass er ein Rüttler geblieben ist. Zumindest er wird Fischer verstehen können, den es durchrüttelt hat – bis in die Physis hinein, deren Wandlungsfähigkeit er wie kaum ein anderer bewiesen hat. Wen jene Jahre, die unter dem Titel Achtundsechziger firmieren, nicht bewegt haben (auf welcher Seite auch immer), der war, ich sag’s gelassen, ein ziemlich armseliger Tropf, ganz wie der, der nicht verändert aus diesen Tagen hervorgegangen ist – verändert bis zum Gegenteil dessen, was er damals glaubte zu sein.

Fischer ist, ich weiß nicht, ob Sie’s wussten, in den Brüchen seiner Biografie (die ja nur eine extreme Vereinfachung, eine geradezu lächerliche Simplifikation ist) durch und durch modern. Selbst die Rede von den Brüchen setzt aber schon das einfache und so fadenscheinige Menschenbild voraus, das ihm entgegengehalten wird. Bruch hin, Bruch her – dieses Menschenbild ist es, was angesichts der Debatte so ermüdet. Es ist nicht in der Lage, die Komplexität dessen, worum es geht, auch nur ansatzweise einzurechnen. Es ist schlicht unbewegt und beobachtet überall, wohin es schaut, seine eigene Unbewegtheit. Es ist auf die Demontage derer aus, die sich rütteln ließen und gerüttelt haben – von der Position einer Selbstgefälligkeit aus, die, wie sagt man doch, brutalstmöglich die Einheit der Person einklagt, die doch einfach nur genau gelebt hat in schwierigen, aber nicht so schmierigen Zeiten.