Die Schule fürs Leben

Eine Kurzgeschichte von WLADIMIR KAMINER

Die Erzieherin zwinkerte mir mit dem linken Auge heimlich zu

Die Leiterin der „Bambini-Oase“ benahm sich sehr merkwürdig. Sie sprang in ihrem Büro von einer Ecke in die andere und kratzte sich ständig den Rücken. Ihre Brille saß schräg auf dem Kopf und drohte jede Sekunde runterzufallen. „Sie müssen mich am Telefon missverstanden haben“, sagte die Kita-Leiterin zu uns, „ich hatte nie irgendwelche Plätze frei. Ich werde auch in Zukunft . . .“, sie machte einen Sprung nach vorn und landete direkt vor uns, „. . . keine neuen Kinder aufnehmen. Auf Wiedersehen!“ Das Letzte schrie sie fast, während sie aus ihrem Büro rauslief.

Meine Tochter Nicole und ich gingen ebenfalls an die frische Luft. „Man hat mich im Kindergarten nicht genommen. Wie soll ich nun weiterleben?“ fragte Nicole und war ganz traurig.

Zu Hause nahm ich erneut die Broschüre „Was ist Wo im Prenzlauer Berg“ in die Hand: „Wir kriegen das schon hin, es gibt doch noch zwei Dutzend weitere Kindergärten rund um die Schönhauser Allee, es muss ja nicht unbedingt die „Bambini-Oase“ sein. Wie wäre es zum Beispiel mit der „Kleinen Flohkiste“ oder dem „Wirbelwind“?

Ich telefonierte mit allen. Am Ende hatte ich eine klare Absage von 10 Einrichtungen, immerhin aber die leise Hoffnung, dass meine Tochter in die Kita „Räuberbande“ durfte, jedoch erst ab Oktober, und eine feste Zusage von den „Frechen Früchtchen“: Sie stünden uns ab sofort zur Verfügung.

Die Tatsache, dass meine Tochter noch kein Deutsch sprach, schreckte die Erzieherinnen nicht ab. Sie konnten sogar alle „guten Tag“ und „wie heißt du?“ auf Russisch sagen. So ein Zufall! Genau diese zwei Sätze konnte Nicole auch auf Deutsch. Doch die Mannschaft von den Frechen Früchtchen schien sehr lieb zu sein. Irgendwie wird es schon klappen, dachte ich. „Sie müssen aber um neun kommen. Sonst verpassen Sie unser ganzes Lehrprogramm“, sagte die Leiterin der Frechen Früchtchen zu mir. „Was gibt es denn um neun?“, fragte ich sie. „Zwischen neun und zehn singen wir mit den Kindern zusammen, spielen auf verschiedenen Musikinstrumenten, lernen neue Gedichte und tanzen herum.“

Interessant, dachte ich, wie klug unsere Gesellschaft organisiert ist. Die Kinder treiben zwischen neun und zehn genau das, womit die Eltern sich erst nach Mitternacht beschäftigen können. Dadurch wird erreicht, dass die Generationen einander bei ihrem Spaß niemals zu sehen kriegen und er ihnen so für immer ein Geheimnis bleibt. „Danach geht die ganze Bande auf den Spielplatz, dann ist Mittag und anschließend Schlafenszeit“, sagte die Leiterin. „Also kommen Sie doch etwas früher.“

Am nächsten Tag waren wir pünktlich um neun zur Stelle. Die Frechen Früchtchen saßen auf dem Teppich in einem großen Raum und lernten ein neues Lied: „Schlaf, mein Kleiner, schlaf lange, / Deine Mutti ist ausgegangen.“ Die Erzieherin sang mit hoher Stimme vor. „Sie ist ganz weit ausgegangen / Und kommt nicht mehr heim. / Sie ist ganz weit ausgegangen / Und lässt dich ganz allein.“

Manche Kinder schliefen dabei wirklich ein, andere lachten nur nervös oder guckten uns – die Neuankömmlinge – neugierig an. Danach las die Erzieherin aus den Märchen aus Tausendundeiner Nacht vor.

Mit großem Erstauen bemerkte ich, wie haargenau diese uralten orientalischen Geschichten die gegenwärtige Wirtschaftssituation in Deutschland widerspiegelten und die Kinder damit schon im Vorfeld auf ihr zukünftiges Berufsleben vorbereiteten.

„Wie ist dein Name, Wanderer, und was für ein Handwerk betreibst du?“, fragte der Großwesir den Unbekannten. „Ich bin Suleyman, der Sohn von Rachid. Ich kann das Schicksal aus den Sternen lesen, Schlangen beschwören und singen und tanzen. Außerdem kann ich die gesamte Geschichte ihres Landes in hochwertigen Reimen zu Papier bringen.“ „Deine Künste werden in unserem Lande nicht gebraucht“, antwortete der Großwesir enttäuscht. „Die Bürger hier leben vom Handel. Alles andere interessiert sie nicht. Aber ich gebe dir einen guten Rat. Geh in den Wald, Suleyman, Sohn des Rachid. Und nimm ein Seil und eine Axt mit. So kannst du uns jeden Tag mit Holz beliefern, dafür bekommst du bis zu einen halben Dinar.“

Exakt dasselbe Gespräch hatte ich Ende November im Arbeitsamt mit einem Herrn Einstein, als der mir eine blöde Umschulungsmaßnahme anhängen und mich davon überzeugen wollte, dass ich als Fliesenleger oder Tischler sehr viel glücklicher sein würde. Einige Freche Früchtchen schliefen bei dem Vortrag ein, doch andere hörten aufmerksam zu.

Meine Tochter verstand zwar kein Wort, aber dadurch war er für sie nur noch interessanter. Die Erzieherin zwinkerte mir mit dem linken Auge heimlich zu. Damit gab sie mir ein Zeichen: Es war die richtige Zeit für mich, zu gehen.

Leise verließ ich den Raum. Wenn es stimmte, was mir einige Freunde erzählt hatten: dass Kinder in dem Alter fähig sind, sich innerhalb von einigen Stunden in einer neuen Sprache zurechtzufinden, dann konnte Nicole mir vielleicht schon heute Abend erzählen, ob der Geist aus der Flasche dem Holzfäller Suleyman aus der Klemme half, damit er weiter seine Schlangen beschwören und hochwertige Reime über die Geschichte eines Landes produzieren konnte. War der Junge eigentlich überhaupt noch zu retten?