Der tiefe Fall des Joseph Estrada

Gestern war der Tag der Wende in Manila: Der philippinische Präsident kann sich gegen Volk, Militär und eigene Regierung nicht mehr halten

von SVEN HANSEN
und HUGH WILLIAMSON

Die Tage, wenn nicht Stunden, des unter Korruptionsverdacht stehenden philippinischen Präsidenten Joseph Estrada im Amt sind gezählt. Vergangene Nacht verhandelten in Manila drei Unterhändler mit Estradas Kabinettssekretär Edgaro Angara über einen Rücktritt des Staatsoberhaupts, berichtete der gewöhnlich gut informierte Politologieprofessor und Zeitungskolumnist Alex Magno einer örtlichen Fernsehstation. Es gehe um einen Rücktritt Estradas noch in der Nacht und damit um einen friedlichen und geordneten Machtwechsel, so Magno. Aus Kreisen der Opposition wurde bestätigt, dass es Verhandlungen um einen „ehrenvollen Rücktritt“ gebe, doch wurden keine Einzelheiten genannt.

Der Präsidentenpalast Malacañang wurde vergangene Nacht von Panzern abgesperrt. Gerüchte machten die Runde, Estrada wolle im Ausland um Asyl bitten. Das wurde von Regierungssprecher Mike Toledo dementiert. Er sagte, es sei nun die Aufgabe des Kongresses, den Anweisungen des Präsidenten zu folgen und die von Estrada angebotenen vorgezogenen Neuwahlen zu organisieren. Toledo betonte, der Präsident trete nicht zurück. Doch in Manila glauben wenige, dass Estrada das Wochenende im Amt überstehen wird.

Denn sollte er nicht noch in der Nacht zurücktreten, läuft heute um sechs Uhr früh Ortszeit ein Ultimatum der Opposition ab. Sie will dann wieder zu zivilem Ungehorsam und Massenprotesten aufrufen und wohl auch zum Sturm auf den Präsidentenpalast. Das Ultimatum der Opposition ist die Antwort auf Estradas Angebot vorgezogener Präsidentschaftswahlen im Mai.

Angesichts des wachsenden Drucks hatte Estrada im Laufe des Tages zunächst angeboten, ihn belastende Bankdokumente doch zur Verwendung im gegen ihn schwebenden Amtsenthebungsverfahren freizugeben. Der Senat hatte am Dienstag in einer umstrittenen Entscheidung die Heranziehung dieser Unterlagen abgelehnt und damit die mehrtätigen Proteste Zehntausender ausgelöst. Weil mit der Senatsentscheidung das Verfahren gegen Estrada zu seinen Gunsten manipuliert wurde, traten sämtliche Ankläger zurück.

Das Angebot, die belastenden Dokumente doch zur Verfügung zu stellen, konnte gestern die Gemüter nicht mehr beruhigen. Schätzungen zufolge forderten mindestens 250.000 Menschen in Manila den Rücktritt des Präsidenten und weckten Erinnerungen an die People-Power-Revolte von 1986, die den Diktator Marcos stürzte. Die Menschen demonstrierten an der gleichen Stelle, an der damals die Proteste stattfanden. Heute erinnert hier ein Schrein mit einer riesigen Marienstatue auf dem Dach daran. Kurzzeitig kam es im Geschäftsviertel Makati zu Steinwürfen zwischen Estrada-Gegnern und -Anhängern, doch insgesamt verliefen die Proteste sehr friedlich.

Estradas Macht reduzierte sich rapide, nachdem sich Verteidigungsminister Orlando Mercado und Generalstabschef Angelo Reyes den Demonstranten angeschlossen hatten. Sie berichteten dem jubelnden Publikum, dass sie Estrada die Loyalität aufgekündigt hätten. „Wir sind hier, weil es einen Wandel geben muss, egal, wie schmerzhaft er sein wird“, sagte Mercado. Er und Reyes fühlten sich jetzt nur noch der Vizepräsidentin und Oppositionsführerin Gloria Macapagal Arroyo verpflichtet. Den beiden schlossen sich dann die Kommandeure sämtlicher Waffengattungen, der Geheimdienstchef und schließlich auch der Polizeichef an. Zudem traten nacheinander die Minister für Finanzen, Inneres, Tourismus, Bildung und Planung zurück. Der philippinische Peso erholte sich dramatisch, als die Rücktritte bekannt wurden. Er stieg auf 47 Peso zum Dollar gegenüber 54 am Vortag.

Estrada blies danach in einer zweiten Fernsehansprache zum Rückzug und kündigte an, das Parlament um vorgezogene Neuwahlen im Mai bitten zu wollen, bei denen er nicht kandidieren werde. „Eine vorgezogene Präsidentenwahl würde meinem Nachfolger einen Neuanfang erlauben, um unsere verletzte Nation zu heilen und unsere taumelnde Wirtschaft wieder aufzubauen.“

Doch Vizepräsidentin Arroyo, die im Falle eines Rücktritts Estradas Präsidentin würde, lehnte dies als „illegal und nicht verfassungsgemäß“ ab und forderte Estradas sofortigen Rücktritt. Senator Raul Roco kündigte an, dass Estrada vor Gericht gestellt werde, auch wenn er zurücktrete. Vertreter radikaler Gruppen forderten, dass Estrada daran gehindert werden müsse, das Land zu verlassen. mit DPA