Stehaufmännchen zum Besteigen

Jürgen Böttcher hat zu DDR-Zeiten den Bau und die künstlerische Gestaltung des Marx-Engels-Forums dokumentiert. Zwanzig Jahre später ist aus den Aufnahmen der experimentelle Essay „Konzert im Freien“ (Forum) entstanden – Freejazz inklusive

von ANDRÉ MEIER

Der Einstieg ist grau verhangen und am Ende gibt’s Regen. Dazwischen liegen zwanzig Jahre und ein Platz im Osten Berlins. 1981 begann der Regisseur Jürgen Böttcher im Auftrag des Defa-Studios für Dokumentarfilme die Entstehung des Marx-Engels-Forums mit der Kamera zu begleiten. Die Anlage sollte nach dem Willen der SED-Führung den mühevollen, von Marx und Engels aufgezeigten und in der DDR glücklich vollendeten Weg in eine von jeglicher Knechtung freie Gesellschaft illustrieren. Dafür wurden keine Kosten gescheut, italienischer Marmor herangefahren, tonnenweise Bronze reserviert, NVA-Soldaten abgestellt und ein gutes Dutzend Künstler jahrelang beschäftigt.

Böttcher, der bis zur Einweihung der Anlage 1986 über fünfzehntausend Meter Film abdrehte, gehörte dazu. Er besuchte die an dem Projekt beteiligten Kollegen und schaute ihnen bei der Arbeit zu, in ihren Ateliers, am Meer oder vor endlosen Wiesen. Hin und wieder sagen sie etwas. Meist geht es um formale Probleme, etwa um die Frage, wo und wie man auf den Stein einschlagen muss, damit am Ende tatsächlich eine Figur stehen bleibt. Über das eigentliche Thema des Auftrags, darüber, dass man künstlerisch abfeiern soll, was sich in der Realität doch schon längst als Chimäre erwiesen hatte, wird kein Wort verloren.

Bei alledem vertraute Böttcher, der als Penck- und Biermann-Freund und offiziell über Jahre geschmähter Maler auf eine für DDR-Verhältnisse achtbare Vita eines Dissidenten verweisen kann, auf die Kraft seiner Bilder; darauf, dass ein in Plastsäcken verschnürter Marx, ein schwebender Engels, ein mit Pin-up-Girls beklebter Spind mehr über die Hoffart und Vergeblichkeit dieses staatlich hochsubventionierten Unterfangens erzählen, als alle verbalen Rechtfertigungsversuche. Damit lag er nicht schief, was vielleicht auch erklärt, warum das gesamte Material damals ungeschnitten im Archiv verschwand.

Jetzt hat Böttcher die alten Aufnahmen wieder hervorgekramt und mit neuen Bildern zu einem, wie er sagt, „experimentellen Dokumentarfilm“ zusammengeschnitten. Eine Genrebezeichnung, die leider dazu angetan ist, von vornherein zu signalisieren, dass man im Lichtspielhaus seiner Wahl mit vielem, vor allem aber mit jeder Menge freier Plätze rechnen kann. Erst recht, wenn man dann noch erfährt, dass das Konzert, von dem im Titel die Rede ist, nicht nur im Freien vor den Statuen von Marx & Engels stattfindet, sondern auch noch von Günter „Baby“ Sommer und Dietmar Diesner unter Zuhilfenahme eines Saxofons und etlicher Schlaginstrumente bestritten wird.

Was wir sehen, ist dann auch über weite Strecken kaum mehr als eine schrullige, uninspiriert mit der Kamera eingefangene Freejazzperformance, die gelegentlich von Böttchers alten, elegisch schönen Dokumentaraufnahmen unterbrochen wird.

Der Regisseur selbst spricht von „dialogischer Improvisation“ und meint damit vielleicht die Sprachlosigkeit, die ihn beim Anblick seiner vor mehr als 15 Jahren gedrehten Aufnahmen befallen haben mag. Dabei gäbe es doch genug zu erzählen. Denn die Denkmalanlage, deren Genesis Böttcher begleiten durfte, floppte. Nicht nur beim Publikum, sondern auch bei der Partei- und Staatsführung, die bitter bereute, ausgerechnet dieses Prestigeobjekt eigenen Künstlern anvertraut zu haben. Legte man doch für gewöhnlich solch ideologisch heikle Unternehmungen in die verlässlichen und auf kämpferisches Pathos spezialisierten Hände russischer Monumentalbildhauer.

Dem Marx und dem Engels, die der Bildhauer Ludwig Engelhardt im Staatsauftrag in die Parkanlage vor dem Palast der Republik stellte, fehlt dagegen jegliche revolutionäre Verve. Kunstgeschichtlich sind die Philosophen der jenseitsgewissen ägyptischen Plastik der 12. Dynastie näher als dem sozialistischen Realismus der späten Ära Honecker. Großväterlich weise triumphieren sie so gütig über Zeit und Raum, dass kaum ein Besucher das Areal verlässt, ohne nicht vorher die Ahnherren des Kommunismus liebevoll getätschelt, gedrückt oder gar bestiegen zu haben.

Böttcher zeigt dieses verquere Rezeptionsgebaren genauso deutlich, wie er Graffitis und Kratzspuren dokumentiert, die inzwischen die Fotodokumente überlagern, die auf großen Stahlstelen eingebrannt Marx & Engels flankieren und dereinst vom heroischen Kampf der Arbeiterbewegung künden sollten. Das sind die seltenen Momente, in denen der filmische Sprung in die Gegenwart dann plötzlich doch noch einen Sinn bekommt. Die Musiker pausieren, Regen tropft und die Kamera erzählt: Vom kläglichen Versanden einer durchaus legitimen Vision ebenso, wie von den hilflosen Versuchen des Publikums, der eigenen Geschichte zu entkommen.

„Konzert im Freien“. Regie: Jürgen Böttcher. DDR/Deutschland, 88 Min.