Armer Osten

Warum politische Klischees die Osterweiterung der EU erschweren

von PHILIPP THER

Kürzlich meinte Roland Issen mit Blick auf die EU-Osterweiterung, es gelte das „Öffnen der Schleusen“ zu verhindern. Wie der DAG-Vorsitzende warnen auch andere Mitglieder der gesellschaftlichen Elite seit langem vor dem „Osten“ schlechthin. Was steckt hinter ihren Bildern der Angst vor einer Springflut, vor allem wenn von „den Osteuropäern“ die Rede ist? Offenbar eine Furcht vor Osteuropa, die immer noch Gräuel, Armut und Rückständigkeit vor Augen hat. Diese Furcht hat keine lange Geschichte, sie entstand erst vor etwa zweihundert Jahren.

Hätte man vor zweihundert Jahren in Berlin oder Wien über Osteuropa gesprochen, so wäre man auf Unverständnis gestoßen. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts war in Europa eine völlig andere Unterteilung des Kontinents gebräuchlich: Man unterschied zwischen dem Norden und dem Süden. Diese mental map entsprach der antiken Tradition, die in der Renaissance wiederbelebt worden war. Noch 1770 behandelte der französische Geograph Pierre Antoine de la Place in seinem Buch „Anecdotes du Nord“ neben Schweden und Dänemark auch Polen und Russland.

Osteuropa als Begriff verbreitete sich erst nach Napoleons verlorenem Russlandfeldzug und dem Wiener Kongress, auf dem Russland zur bestimmenden Macht Kontinentaleuropas wurde. In Deutschland unterteilten bald darauf die Geographen Europa in West und Ost, wobei schon damals die Trennlinie zwischen der nördlichen Adria und der Ostsee gezogen wurde. „Der Osten“ lag nun nicht mehr am Ostufer des Mittelmeeres, sondern in den Köpfen der westlichen Eliten vor der Haustür Preußens.

Die Kategorie Osteuropa blieb nicht lange neutral. Wegen des blutig unterdrückten Polenaufstandes von 1830 und des strengen Regimes von Zar Nikolaus I. bekam Russland bald den Stempel als Reich der Despotie und der Rückständigkeit aufgedrückt. Russland und Osteuropa ersetzten die Türken in der Rolle des constituting other, also dem Gegenbild, mit dessen Hilfe die Europäer und „der Westen“ ihre eigene Identität formten. Wie später zu Zeiten des Kalten Krieges fühlten sich die Länder Westeuropas zwar zivilisatorisch überlegen, aber stets von den Mächten im Osten bedroht.

Der amerikanische Historiker Larry Wolff hat gezeigt, dass die negative Stilisierung Polens, Russlands und des damals noch osmanisch beherrschten Südosteuropa bereits in der Aufklärung begann. Voltaire gab in seinem Buch über Peter den Großen und seinem ausführlichen Briefwechsel mit Katharina II. Russland aber eine Chance: Es sollte mit radikalen Reformen auf den Entwicklungsstand von Frankreich katapultiert werden.

Bis heute hat sich diese Denkfigur des Gleichziehens gehalten: Dass Russland bei entsprechenden Reformen den gleichen Entwicklungsstand wie der Westen erreichen könne. Auch dem seit 1989 verwendeten Begriff Transformation liegt eine ähnliche Idee zugrunde, nach der Osteuropa mit radikalen Reformen – nun im Namen der Demokratie und der Marktwirtschaft – endlich westlich werden könne. Dass sich die westlichen Länder in der gleichen Zeit weiterentwickeln und die Transformation daher zwangsläufig zum Hase-und-Igel-Spiel wird, in dem der Osten immer aufholt und doch immer, trotz brutaler Wirtschaftsreformen, rückständig bleibt, wurde in der Aufklärung ebenso wenig beachtet wie heute.

Das traditionelle Bild Osteuropas ist seit Fall des Eisernen Vorhangs Ende der Achtzigerjahre zurückgekehrt: Armut, Rückständigkeit und Gewalt. Vor dieser Einordnung gibt es kein Entrinnen, auch wenn sie der Realität in Großstädten wie Moskau oder gar Warschau nicht mehr entspricht.

Wie aber reagierten die Russen selbst auf ihre „Verostung“ im 19. Jahrhundert? Ein Großteil der Elite wandte sich bis zur Revolution von 1917 ganz bewusst dem Westen zu. Allerdings war sie auch empfindlich gegenüber der Ausgrenzung, und je mehr Russland als nicht europäisch angesehen oder gar in Asien verortet wurde, desto mehr nahm auch dort die Tendenz zu, sich von Europa abzusondern. Kommunikativ waren Westeuropa und Russland also stets eng verbunden.

Zwischen 1918 und 1989 stellte die mentale Karte Osteuropas weniger Russland beziehungsweise die Sowjetunion, sondern vor allem Polen, Tschechen, Slowaken und Balten vor eine Herausforderung. Ähnlich wie heute wollten diese Nationen nach 1918 kein Bestandteil „Osteuropas“ sein. Die neu gegründeten Staaten ordneten sich daher als Mitteleuropa oder Zwischeneuropa ein. Die „Erfindung“ dieses Raums wurde von den Westmächten unterstützt, um ein Bollwerk gegen den kommunistischen Osten zu errichten.

Eine vergleichbare Entwicklung gab es in den Achtzigerjahren, als Intellektuelle wie Milan Kundera und György Konrád ihr „Mitteleuropa“ scharf gegen das Mutterland des realexistierenden Sozialismus abgrenzten. In Deutschland machte der Mitteleuropabegriff in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts eine eigene Karriere, weil man sich vom Westen distanzieren und einen von Berlin aus dominierten Raum zwischen Nord- und Ostsee, Schwarzem Meer und Adria einfassen wollte. Wegen der unseligen Vergangenheit des Begriffs in der NS-Zeit sprechen Politiker in Deutschland heute eher von Mittelosteuropa, wobei man fragen darf, wo in Europa der Nahe Osten liegt, wenn an der Oder und im Böhmerwald schon der Mittlere Osten beginnt.

Die verschiedenen Varianten des Begriffs Mitteleuropa dienen heute dazu, die aussichtsreichen Beitrittskandidaten der EU zusammenzufassen und von den Staaten der ehemaligen Sowjetunion (GUS) abzugrenzen. Sie verkörpern für den Westen das Reich der Katastrophen, der Armut und bisweilen immer noch der Bedrohung. Mit den Russen sitzen Ukrainer, Weißrussen, Rumänen sowie große polnische und ungarische Minderheiten im selben osteuropäischen Boot. Ähnlich wie Samuel Huntington in seinem paranoiden Buch vom „Clash of Civilizations“ hat auch Helmut Schmidt diese Nationen in seinem Buch „Die Selbstbehauptung Europas“ in einen Topf geworfen. Wie viele europäische Intellektuelle vor ihm begründet der Altkanzler dies im Wesentlichen mit historischen Eigenheiten in ihrer Kultur und Mentalität.

So behauptet Schmidt, dass Russen, Ukrainer und Weißrussen seit dreihundert Jahren eine „nur untereinander verwandte kulturelle Entwicklung durchlaufen“ hätten und kaum „in das kulturelle Kontinuum Europas integriert“ gewesen seien. Er übersieht, dass ein Gros der heutigen Westukraine bis 1918 zu Österreich gehörte, die dortige Kirche seit über vierhundert Jahren Rom untersteht und die Architektur in Lemberg mehr der in Wien als jener Kiews ähnelt.

Für die Ukrainer, Weißrussen und andere Bewohner der GUS hat die Zählebigkeit der Sowjetunion in den Köpfen westlicher Politiker und Autoren fatale Folgen. Ins Schengenland können sie nur nach Visaprozeduren einreisen, die an die Praktiken der Ostblockländer in den Achtzigerjahren erinnern. Seit einiger Zeit versucht die EU außerdem, Beitrittskandidaten wie Polen vorzuschreiben, die Reisefreiheit ihrer östlichen Nachbarn einzuschränken.

Polen wehrt sich im Falle der Ukrainer zwar gegen die Einführung einer Visapflicht, wird aber bei einem EU-Beitritt kaum verhindern können, dass der EU-Vorhang seine östlichen Nachbarn so dicht abriegelt wie früher der Eiserne Vorhang den Ostblock. Westukrainische und siebenbürgische Intellektuelle bemühen sich noch, diesem Brüsseler Osteuropa zu entkommen. Sie behaupten, ein Teil Mitteleuropas zu sein und versuchen, sich vom „Osten“ abzugrenzen. Doch auch dieses Unterfangen wirkt vergeblich, weil Tschechen und Ungarn immer häufiger die vor zwanzig Jahren von ihnen selbst eingeforderte Kategorie Mitteleuropa ablehnen und sich gleich dem Westen zuordnen. Mitteleuropa driftet also unaufhaltsam nach Osten, und in Osteuropa will überhaupt niemand mehr sein.

Wenn die ehemaligen Mitteleuropäer (politisches und ökonomisches) Pech haben, werden aber auch sie nie den aufgeklärten Westen erreichen, denn schließlich heißt die Erweiterung der EU „Osterweiterung“, und kaum etwas wird heute so negativ konnotiert wie ein Wort mit der Vorsilbe Ost. Im Deutschen gibt es derlei Worte mehr als in jeder anderen europäischen Sprache, wobei die Palette von „Ostblock“ bis „Ostprodukt“ reicht. Zwar gibt es in Deutschland auch eine Tradition der Osteuroparomantik im Sinne Jean-Jacques Rousseaus, aber zumindest die Ostdeutschen wissen seit 1990, dass die Vorsilbe „Ost-“ im Westen recht selten Sympathien auslöst.

Man könnte die mental map von Osteuropa in Deutschland und in Europa als Spielerei von Intellektuellen abtun, würde diese Raumeinheit nicht wieder mit brisantem politischen Inhalt gefüllt. Ein klassisches Beispiel hierfür sind die polnischen Bauern, die im Falle des Beitritts ihres Staates in die Europäische Union angeblich deren gesamten Finanzhaushalt sprengen würden. Dabei wird übersehen, dass Polens Bauern trotz der ungünstigen Agrarstruktur auf einem freien Weltmarkt konkurrenzfähig wären, weil sie zu niedrigen Löhnen produzieren. Überspitzt formuliert liegt das Problem also nicht auf der Seite der polnischen Bauern, sondern beim Subventionssystem der EU, das eine Erweiterung nicht verkraftet.

Ein weiteres Beispiel, wie der Osten zur Schwarzmalerei benutzt wird, ist das Thema der Freizügigkeit. Demographische Untersuchungen haben ergeben, dass nur wenige Menschen aus den EU-beitrittswilligen Ländern langfristig in einem der klassischen EU-Staaten bleiben wollen. Wenn man diese Raten mit dem ökonomisch begründeten Zuwanderungsbedarf Deutschlands vergleicht, dann käme die vermeintliche Flut an Zuwanderern nur noch einem Bächlein gleich.

Doch bei atmosphärischem Bedarf lässt sich immer eine Bedrohung aus dem Osten konstruieren, unabhängig, ob es sich dabei um den Nahen Osten hinter dem Böhmerwald oder den etwas ferneren hinter dem avisierten EU-Vorhang handelt.

PHILIPP THER, 33, arbeitet am Berliner Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas. Von ihm erschien: „Deutsche und polnische Vertriebene“, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998, 382 Seiten, 78 Mark