Die Metaphysik der Haifische

Eine Gesellschaft oder Gemeinschaft, die den Kritiker sofort einen Psychopathen nennen muss, der sogar sein Aussehen und Habitus als verdächtig gilt, steckt selbst in Problemen. Anmerkungen zum Deutschlandbesuch von Norman G. Finkelstein

Verurteilung zu lebenslangem Deutschland

von HANNA RHEINZ

Die Debatte um das Buch des amerikanischen Politikwissenschaftlers Norman G. Finkelstein gerät zu einem Spektakel, dessen Besonderheiten nicht nur in triumphierenden deutschen Neonazis liegen, sondern in der Inszenierung negativer jüdischer Identität. Sieht man vom Schattenboxen mit Deutungen geschichtlicher Ereignisse einmal ab, erschöpft sich das Echo auf „Die Holocaust-Industrie“ in einem Sammelsurium von persönlichen Diffamierungen der Person des Autors. Ihren Tiefpunkt erreichten sie mit der Titelstory „Finkelstein ist ein Psychopath“, die ausgerechnet von der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung für ihre Ausgabe vom 15. Februar in Auftrag gegeben wurde.

Niedergemacht, verunglimpft, verleumdet wurde er überraschenderweise nicht nur von Journalisten, sondern auch von Historikern. Als beruflicher Versager, frustrierter Akademiker, Sonderling, der unablässig seine Mutter zitiere, als Exzentriker (David Irving ebenbürtig), beruflich eine Niete, wissenschaftlich indiskutabel, eine Randexistenz, erregt der „Jude Finkelstein“ nicht nur durch seine Abstammung, seinen beruflichen Werdegang und seine Lebensweise, sondern sogar durch sein Äußeres Missfallen: Anstatt heftig zu gestikulieren, kam er unaufgeregt, ja „mit versteinertem Gesicht“ einher, „jedes Wort einzeln hervorpressend wie ein Bauchredner“, wie es der Spiegel am 12. Februar wusste – womit der Beweis erbracht wäre, dass statt einer Buch- offenbar eine Zirkusvorstellung erwartet worden war.

Warum löst die Behauptung, dass der mit dem Holocaust geltend gemachte moralische Anspruch von Interessenverbänden auch als Instrument benutzt werde, um Macht und Einfluss, ja sogar finanzielle Vorteile zu gewinnen, gerade in Deutschland solch bösartige und gehässige Reaktionen aus? Vor allem jedoch, warum gehen diese ausgerechnet von Seiten jüdischer Publizisten, Historiker und ihrer Anhänger aus?

Im Unterschied zur wohlwollenden Rezeption der Bücher von Daniel Jonah Goldhagen und Peter Novick, enthüllt der Stil der Finkelstein-Debatte, was man eigentlich verhindern wollte: Antisemitismus, und zwar in jener verschwunden geglaubten Variante des jüdischen Selbsthasses, wie sie 1930 vom protestantisch getauften, später zionistisch bekehrten Theodor Lessing beschrieben worden ist. Vor diesem Hintergrund gewinnt auch die in die Arena geworfene Psychopathie-Diagnose des Publizisten Henryk Broder eine gewisse Plausibilität. Freilich in anderer Weise, als dies beabsichtigt worden war. So sie denn ernst genommen würde, träfe sie auf die jüdische Gemeinschaft in toto zu. Kernsymptom einer Psychopathie-Diagnose ist laut ICD-10 (Internationale Klassifikation psychischer Störungen) eine tief greifende Bindungsstörung. Während im Volksmund der Begriff „Psychopath“ als Schimpfwort benutzt wird für einen asozialen, unberechenbaren und verantwortungslosen Menschen (wie Hitler, der Kinderschänder Bartsch oder – nach Broder – Finkelstein), verweist das Symptom der Bindungsstörung klinisch auf das nie geglückte Vertrauen zur Umwelt und zu den Bezugspersonen, verweist auf immer wieder erfahrenen Verrat, auf wiederholt und traumatisch erlittenes Ausgegrenzt- und Herausgeworfenwerden. Ein Psychogramm, das Karl Kraus in hellsichtiger Vorwegnahme späterer Demontagen als „Metaphysik der Haifische“ bereits 1920 entwarf, Menschen beschreibend, die ihre Gemeinschaft „als eine Verurteilung zu lebenslänglichem Leben empfinden“.

Mehr als zehn Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung zeigen die Kommentare auf Finkelsteins provokative Thesen einen Querschnitt durch das Lebensgefühl der jüdischen Gemeinschaft in diesem Land. Manch einer erlebt die ethnisch definierte Identität als Anachronismus in einer globalisierten Welt, die ein Übermaß an Identitätsentwürfen anbietet. Andere machen das erdrückende Gewicht jüdischen Schicksals für das Verschwinden der religiösen Identität verantwortlich, die längst von der zur „Ersatzreligion“ mutierten Holocaust-Heiligung ersetzt worden sei.

In diese Situation tritt ein Autor, der sich als Tabubrecher versteht und mit der Behauptung, jüdische Opferverbände hätten sich an den Opfern der Vernichtung bereichert, für Unruhe sorgt. Dass dies Grundfesten der jüdischen Selbstdefinition erschüttert, liegt auf der Hand. Unregelmäßigkeiten im Transfer zwischen Funktionären und ihren Mitgliedern wären für jeden schwer zu verdauen. Für Menschen, deren Schicksal so eng verbunden ist mit der Aufkündigung von Loyalität und Verrat – erwiesen sie sich als Desaster. Zudem richtet sich die Botschaft nicht nur an das Verhältnis des Einzelnen zu seinen Repräsentanten, sondern an das Selbstverständnis jüdischer Existenz überhaupt. Was, wenn das Trauma des Vertrauensbruchs sogar bis in den inneren Kreis der jüdischen Gemeinschaft hinein gewuchert wäre? Wenn die jüdischen Verbände die Opfer der NS-Diktatur ein wiederholtes Mal zu Opfern, diesmal ihrer eigenen Entschädigungspolitik gemacht hätten? Würden die Funktionäre damit nicht zwangsläufig in die Fußstapfen der Täter treten? Und ließe dies das Gerüst der Selbstrechtfertigungen jüdischer Existenz in diesem Land nicht vollends in sich zusammenfallen?

Kritik, die sich nach innen richtet, führt zum Ausschluss

All diese Fragen stehen im Raum, ausgesprochen freilich wurden sie nicht. Kritiker stehen einer an den Kalten Krieg erinnernden Mauer der Abwehr und des Totschweigens gegenüber. Diese Abwehr hat ihre Gründe. Historisch sinnvoll war sie als Abwehr- und Schutzhaltung einer verfolgten Minderheit, die ihr Überleben nur sichern konnte, indem sie sich der Duldung durch die Mächtigen versicherte und einen Pakt mit ihnen einging. Heute erscheint die unkritische Identifizierung mit der Machtposition obsolet. Außerdem ist sie zutiefst undemokratisch und birgt die Gefahr, den Schwächeren zu stigmatisieren und auszugrenzen. Wer mit dem Argument der Antisemitismus-Gefahr die Kritik aus den eigenen Reihen unterbindet, unliebsame Kritiker mundtot macht, hat nicht verstanden, dass irrationale Phänomene wie Judenfeindschaft den Rahmen kausaler Bedingungszusammenhänge sprengen.

Der rüde Umgang mit Finkelstein zeigt, dass sich die jüdische Gemeinschaft in Deutschland noch längst nicht im Zustand der Normalität befindet. Kritik, die sich nach innen richtet, führt noch immer zum Ausschluss. Sie lässt destruktive Haltungen aufbrechen, die von verdeckten Schuldgefühlen genährt werden, deren Quelle die Unsicherheit ist: dem eigenen Status in diesem Land, ebenso wie dem Status anderer Juden gegenüber. Nicht selten rotiert sie um die Frage: Darf man überhaupt im Land der Täter leben? Oder, wer darf hier überhaupt als Jude gelten? Der mit deutscher Verwandtschaft eigentlich nicht. Diese Fragen brechen mit jeder Grabschändung, mit jedem Anschlag, mit jeder verbalen Entgleisung aufs Neue auf. Gerade weil die Fliehkräfte so groß sind, und viele Gemeinden an den Konflikten zwischen den verschiedenen religiösen und ethnischen Fraktionen schier zu zerbrechen drohen, wird umso dringlicher an der vermeintlichen Konfliktfreiheit festgehalten, dieser romantischen Fiktion jüdischer Solidarität über materielle und religiöse Interessen hinweg. Damit wird ein Nachsinnen über die Ursachen von Zerwürfnissen, über die in jeder Gemeinschaft bestehenden Interessenkonflikte, über Privilegien und Kontrollmöglichkeiten weiterhin verhindert. Weil das Selbstverständnis über Generationen hinweg aus dem Verfolgten- und Minderheitenstatus hergestellt werden konnte, muss die einigende Kraft, die im Austragen von Konflikten liegt, erst entdeckt werden. Doch schon wieder stehen wir vor der Falle der negativen Identität, denn je unsicherer der eigene Standort, je brüchiger die Bindung an die Gemeinschaft, desto schwieriger ist es, mit Widersprüchen und den sie begleitenden Ängsten umzugehen. Womit wir wieder bei der „Psychopathie“ wären, jener grundlegenden Bindungsstörung, die in dieser Bedeutung als jüdischer Seelenzustand auf deutschem Boden gelten kann.

Der „Metaphysik der Haifische“ zufolge sind die hier lebenden Juden gestraft mit der „Verurteilung zu lebenslangem Deutschland“, was für viele nichts anderes bedeutet, als lebenslang über „verwesendes Leben“ zu schreiten. Nach Finkelsteins Appell wenigstens sind Opfer nicht dazu verurteilt, lebenslang ihren Verbandsvertretern treu zu bleiben. Sie könnten ihr Wahlrecht einfordern, ihre Mitbestimmung bei der Verwaltung des eigenen Schicksals durchsetzen, um endlich die im Umfeld der Bewältigung des Holocaust errichteten Denk- und Redeverbote als das zu entlarven, was Verbote schon immer waren: Instrumente der Kontrolle, die man unbedingt selbst in die Hand bekommen sollte.

Hanna Rheinz ist Kulturwissenschaftlerin und promovierte Psychologin. Die frühere Leiterin des jüdischen Kulturmuseums in Augsburg ist heute Publizistin und Buchautorin. Publikationen u.a. „Die jüdische Frau. Auf der Suche nach einer modernen Identität“, Gütersloher Taschenbuch Verlag1998.