Radikale Kontinuität

Ein Heidelberger Symposium suchte neue Sichtweisen der chinesischen Kulturrevolution. Auch die extrem politisierte Kultur dieser Zeit bedeutete keinen Bruch in der modernen Entwicklung Chinas

Die Rotgardisten fanden oft keine Tempel zum Anzünden, frühere Kulturrevolutionen waren ihnen zuvorgekommen

von MARTIN EBNER

Am Vormittag einen tausendjährigen Tempel abfackeln, am Nachmittag mit einer Million anderer Rotgardisten über den Tiananmen-Platz paradieren, dabei mit einem kleinen roten Buch wedeln und „Vorsitzender Mao – röteste, rote, rote Sonne unseres Herzens“ brüllen: So sah nach gängiger Auffassung von 1966 bis 1976 das kulturelle Leben in China aus. Ausnahmsweise ist auch die parteiamtliche chinesische Geschichtsschreibung der gleichen Meinung: Die Kulturrevolution sei eine Phase kultureller Stagnation gewesen, eine einzige Katastrophe.

Dieses überschaubare Bild ist – wie üblich – den Wissenschaftlern nicht differenziert genug. Ende letzter Woche trafen sie sich in Heidelberg mit Zeitzeugen zu einem Symposium, das die Sinologin Barbara Mittler organisiert hatte, um „neue Wege zu finden, wie man die kulturrevolutionäre Kunst und Kultur betrachten kann“. Es könne gezeigt werden, dass „auch die extrem politisierte Kultur dieser Zeit sich nahtlos in die Entwicklung der chinesischen Kultur seit dem Anfang des 20. Jahrhundert einordnen lässt“. Diese Kontinuität sei auch ein Grund dafür, dass Mao-Bilder trotz der traumatischen Erinnerungen vieler Chinesen heute zur Folklore gehören und Rockgruppen erfolgreich ihre Version des „Marschs des roten Frauenbataillons“ auf CDs verkaufen.

Der Heidelberger Kulturwissenschaftler Rudolf Wagner zeigte, dass die Rotgardisten oft keine Tempel mehr zum Anzünden vorfanden, weil ihnen frühere Kulturrevolutionen zuvorgekommen waren. Ob die Taiping-Revolution um 1850, die „Hundert-Tage-Reform“ von 1890 oder die „Vierter-Mai-Bewegung“ von 1919: Jedes Mal traten selbst ernannte „große Führer“ auf, verdammten Chinas Geschichte und wollten nach westlichen Vorbildern eine „neue Gesellschaft“ schaffen. Und jedes Mal wurden Altertümer, die der radikalen Umerziehung des Volkes im Weg standen, zerstört.

Weitere Vorträge zu Oper, Musik, Film, Kunst und Literatur wiesen nach, dass sich die künstlerische Produktion der „unglücklichen Periode“ nicht auf die „8 Modell-Stücke“ beschränkte, also auf die (tatsächlich 18) unablässig wiederholten und verhassten Propaganda-Opern, Ballette und Sinfonien mit Titeln wie „Mit taktischem Geschick den Tigerberg erobern“. Zudem hätten Künstler trotz vorgeschriebener Themen kreativ sein können: In westlichen Museen gebe es auch ganze Abteilungen „bloß mit Jesus“.

Die Heidelberger Sinologin Barbara Mittler verfolgte die Geschichte der Modell-Musik bis ins 19. Jahrhundert zurück. Seit damals habe sich in China die „pentatonische Romantik“ durchgesetzt, eine Synthese von traditionellen Melodien und europäischer Romantik – und zwar so gründlich, dass alte chinesische Musik, die unharmonisch klingt wie westliche Avantgarde-Musik, vom Publikum nicht mehr als „chinesisch“ wahrgenommen werde. Selbst die Modell-Opern wendeten westliche musikalischen Konventionen an. Trotz der Verbote seien „alle Arten von Musik weiter gehört“ worden, auch von „bourgeoisen“ Komponisten wie Mozart.

Li Hsiao-ti von der Academia Sinica in Taibei erläuterte, dass Opern bereits nach dem gescheiterten Boxer-Aufstand die Religion als Mittel zur Volksbelehrung ablösten: Chen Duxiu, ein Mitbegründer der Kommunistischen Partei Chinas, hielt schon im Jahr 1904 die Oper für „eine großartige Schule der Massen“ und geeignet, den Analphabeten Patriotismus beizubringen, aber auch Licht und Elektrizität. Als später die Propagandagruppen der Roten Armee entdeckten, dass Sprechtheater bei der Landbevölkerung nicht ankommt, schrieben sie neue Texte für die alten Melodien der Peking-Opern.

Holzschnitte, die populärste revolutionäre Kunstform, griffen nicht auf vergleichbar alte Traditionen zurück, sondern orientierten sich an westlichen Vorbildern wie Käthe Kollwitz. Tang Xiaobing, Historiker aus Chicago, und Julia Andrews, Kunsthistorikerin aus Ohio, zeigten, wie sich die Holzschnitte bereits in den 30er-Jahren zur Propaganda entwickelten: Avantgarde-Experimente wurden 1937 beendet, leicht verständliche Holzschnitte sollten die Bevölkerung davon abhalten, den japanischen Invasoren zu helfen.

Einen größeren Bruch stellte der Erfurter Historiker Peter Merker bei der Porzellankunst fest. In der Stadt Jingdezhen sei zwar seit über 1.000 Jahren Porzellan produziert worden, aber noch nie „proletarische“ Motive. Dort habe die Kulturrevolution besonders üble Folgen gehabt: Altes Porzellan wurde zerschlagen und Fachleute zur Landarbeit geschickt. Da sich die Produktion nicht gleich schnell wie die politischen Kampagnen ändern ließ, sei schließlich nur Mao als Motiv übrig geblieben. Bis heute habe Jingdezhen die verlorenen Anteile des Weltmarkts nicht zurückgewinnen können.

Die bildende Kunst habe dagegen in der Kulturrevolution bis heute „einen reichen Fundus an Bildern und Themen“, die sich gut auch an westliche Kunden verkaufen ließen, führte die Pariser Kunsthistorikerin Martina Köppel aus. Während sich moderne chinesische Maler über die Kunst der Revolutionäre lustig machen und Cola-Dosen in alte Propagandaplakate einfügen, versuchen die Behörden, die Sujets für die Konkurrenz mit der Konsumwerbung zu modernisieren. Als Beispiel nannte der Leidener Sinologe Stefan Landsberger die Entwicklung des Vorbilds Lei Feng: Ehemals ein braver Soldat, der seinen Kameraden die Socken wäscht, ist Lei Feng auf neuen Postern zwar immer noch Soldat, aber auch stolzer Besitzer eines Hauses und eines Bankkontos.

Warum reagiert das Publikum nicht allergisch auf die alten Helden? Heute seien „Das Dorf Shajiabang“ und die anderen kulturrevolutionären Opern das chinesische Pendant zur Rocky Horror Picture Show, berichteten Zuhörer: Ältere Chinesen kennen alle Texte auswendig und amüsieren sich bei den Vorstellungen prächtig. Die Literaturwissenschaftlerin Chen Xiaomei aus Ohio meinte dagegen, die Mischung von traditioneller Kultur und revolutionären Ideen erkläre den anhaltenden Erfolg der Modell-Stücke auch in der modernen Konsumgesellschaft: „In den Opern gibt es für jeden Geschmack etwas.“

Die Erinnerung an die Rotgardistenzeit definiert sich durch die heutige Situation, fand Carma Hinton, in Peking geborene Filmemacherin aus den USA, anlässlich eines Multimedia-Projekts über die Geschichte der Kulturrevolution heraus: Wer heute erfolgreich ist, spreche von einer „wertvollen Erfahrung“, wer es seither zu nichts gebracht hat, betone die verlorene Zeit und das Leiden. Sie selbst erinnere sich an Idealismus, aber auch an die Auflösung von Bibliotheken, die ungewollt zu einer „Lesewelle“ und zur „kulturellen Bereicherung“ geführt habe.

Die ganze Kulturrevolution habe unbeabsichtigte Folgen gehabt, meinte der Politologe Richard Kraus aus Ohio: Sie habe die Ausbreitung des Kapitalismus nicht behindert, sondern beschleunigt. Die Zerstörung der alten chinesischen Kultur sei ein „Geschenk für den Neoliberalismus“ gewesen: Nun könne sich China als Exporteur von Billigkulturgütern in die Weltwirtschaft integrieren. Der heftige Streit um die politische Linie werde nun von neuen Konflikten abgelöst: Die Autoren der Modell-Stücke, früher in Kollektiven organisiert, kämpfen jetzt erbittert um das profitable Copyright.

MARTIN EBNER

Informationen und eine Auswahl chinesischer Propagandaplakate aus einer aktuellen Ausstellung: www.sino.uni-heidelberg.de/conf/propaganda