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: Trotzdem: Bücher, die die Welt verändern

Glaube, Liebe, Hoffnung

Vermutlich glaubt außer Günter Grass heute niemand mehr daran, Literatur könne Wirkungen entfalten, die über die Sphäre des Ästhetischen und Privaten hinaus irgendwie gesellschaftlich „relevant“ sind. Allerdings war diese Skepsis gegenüber einem politischen und sozialen Engagement bereits dort zu registrieren, wo der erzieherische oder aufklärerische Impuls auf den ersten Blick ungebrochen schien – beispielsweise in Dostojewskis „Tagebüchern“, publizistisch-journalistischen Arbeiten, in denen er sich mit Fragen des russischen Alltags beschäftigte und das zaristische System kritisierte. Dennoch notierte er resigniert: „Unsere Intellektuellen werden dem Volk doch nichts Vernünftiges zu sagen verstehen. Sie werden das Volk nur in Erstaunen setzen und es zu guter Letzt, und zwar sehr bald, um seine Geduld bringen – und damit wird die Sache enden.“

Selbst Heinrich Mann, der während der Weimarer Republik erstaunliche publizistische Energie entfaltete, um die Demokratie vor ihren radikalen Verächtern zu verteidigen, wusste sehr genau, dass dem Faschismus mit Romanen nicht beizukommen war. Seine Hoffnung, dass Literatur als Medium der Humanität funktionieren könne, klingt daher nicht selten vage: „Die etwas in Vergessenheit geratene Menschenliebe, der Glaube an den Menschen und an seine Bestimmung, glücklich zu sein, ich wünschte, dass die Späteren sie wieder kennen mögen, und dass die Literatur ihr Verbreiter sei.“

Im heute nur noch in der Erinnerung, damals jedoch leider real existierenden Sozialismus war Kulturdoktrin, dass Literatur überhaupt nur Wert haben könne, wenn sie zur Entwicklung des Sozialismus beitrage und entsprechende Wirkungen zeitige. Das hat ihr geschadet und deren Urheber, so sie sich der Doktrin fügten, in wachsenden Realitätsverlust getrieben, der nicht selten schizophrene Züge aufwies. Einer der bizarrsten Fälle war die Schriftstellerin Gisela Elsner, die aus großbürgerlichen Verhältnissen Münchens stammte, aufgrund ihrer politischen Überzeugungen aber in der DDR erfolgreicher war als im Westen. Nach dem Mauerfall geriet die komplizierte Mischung aus bürgerschreckender Koketterie und Kommunismusseligkeit völlig außer Kontrolle, Elsner beging Selbstmord. Nach dem gleichnamigen Film Oskar Roehlers hat jetzt Manfred Flügge den fiktiven Lebensroman „Die Unberührbare“ geschrieben.

Umgekehrt hat Bekenntnisliteratur, deren erster Impuls eigentlich „nur“ ein Selbsterkenntnisversuch des Autors ist, gelegentlich enorme gesellschaftliche Wirkungen ausgelöst. So machte etwa André Gides autobiografische Schrift „Stirb und Werde“ über die ersten drei Jahrzehnte seines Lebens bei Erscheinen 1920 Skandal. Gide beschrieb nämlich, in für die damalige Zeit drastischer Offenheit, sein homosexuelles Coming-out, womit das tabuisierte Thema in Frankreich Einzug in den öffentlichen Diskurs halten konnte.

Neben Sartre war Albert Camus der öffentlich wirksamste Intellektuelle Frankreichs im 20. Jahrhundert. Olivier Todds große Biografie macht deutlich, inwieweit Camus’ ebenso rigoroser wie stiller Moralismus jedem vorschnellen Engagement überlegen war: „Ein Intellektueller darf sich nicht mit Politikern einlassen, deren tägliches Brot die Lüge ist. Man kann das Werk Camus’ ablehnen, aber niemand sollte die Stellungnahmen eines Mannes ignorieren, vereinfachen oder lächerlich machen, der neben denen, die sich überall engagieren und echauffieren, geradezu vorbildlich wirkt. Er erinnert die Intellektuellen an den grundlegenden Unterschied zwischen ihrer Arbeit und der der Politiker: Die einen müssen schöpferisch sein, kommentieren und kritisieren, die anderen regieren.“

KLAUS MODICK

Fjodor M. Dostojewski: „Tagebuch eines Schriftstellers“. Serie Piper, 681 Seiten, 24,90 DMAndré Gide: „Stirb und Werde“. dtv, 392 Seiten, 29,50 DM Heinrich Mann: „Das öffentliche Leben“. Fischer-TB, 453 Seiten, 29,90 DMOlivier Todd: „Albert Camus“. rororo, 924 Seiten, 32,90 DMManfred Flügge: „Die Unberührbare“. Aufbau-TB, 155 S., 14,90 DM