„Migration ist gestaltbar“

Das „Netzwerk Migration in Europa“ möchte den Einwanderungsgesellschaften ein Gedächtnis geben. Nicht mit politischen Statements, sondern mit Ausstellungen und Deutungsangeboten

Interview PETRA WELZEL

taz: Ihr befasst euch wissenschaftlich schon viele Jahre mit der Geschichte und Soziologie von Migration. Was macht für euch das Thema Migration und vor allem Migrationsgeschichte so interessant?

Rainer Ohliger: Man muss einer Einwanderungsgesellschaft, in der wir ja leben, ein Gedächtnis geben. Was das Thema Migration betrifft, klaffen dabei in Europa noch immer große Lücken.

Anne von Oswald: In der öffentlichen Debatte oder den Medien gibt es zum Thema Migration keine langfristige Erinnerung, das Rad wird oftmals neu erfunden. Debatten, die tatsächlich historische Vorläufer oder Parallelen haben, werden als tagesaktuell dargestellt. Schaut man sich die Debatten der Fünfziger- und Sechzigerjahre oder auch die von Ende des neunzehnten, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts über Arbeitsmigration an und vergleicht sie mit den heutigen, dann ging es oftmals um die gleiche Thematik, die gleiche Orientierungslosigkeit.

Rainer Ohliger: Ehrlich gesagt leitet uns auch der vielleicht naive Glaube, dass man aus der Geschichte lernen könne, wenn man sich nur mit ihr auseinander setzt.

Unter anderem deshalb habt ihr jetzt das „Netzwerk Migration in Europa“ gegründet. Wie wird euer Aktionsradius konkret über die wissenschaftliche Auseinandersetzung hinausgehen?

Anne von Oswald: Unsere Absicht ist es, eine Brücke zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit zu schlagen. Wir wollen einen Beitrag zur politischen Bildung leisten, in dem Lehr- und Lernmittel für Schulen, aber auch für die Erwachsenenbildung erarbeitet und bereitgestellt werden. Das zweite Standbein ist der Ausstellungsbereich. Eine virtuelle Fotoausstellung über Immigration nach Deutschland nach 1945 wird bereits im Herbst dieses Jahres im Internet zugänglich sein. Mit diesem und anderem vorhandenen Material werden wir eine Wanderausstellung mit Workshops und Vorträgen konzipieren, die über die Grenzen Deutschlands hinaus ein größeres Publikum ansprechen soll.

Rainer Ohliger: Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Vernetzung. Nicht dass es bisher keine Institutionen in Deutschland oder Europa gäbe, die sich mit Migration oder Migrationsgeschichte beschäftigen. Was aber fehlt, ist eine engere Kooperation und ein Austausch zwischen den einzelnen Ländern und Kulturen, denn das Thema Migration hat überall Parallelen und eine ähnliche Virulenz.

 Innerhalb des Netzwerks ist im konzeptionellen Bereich die Idee recht weit vorangeschritten, ein europäisches Migrationsmuseum zu gründen. Das Konzept werden wir im Herbst in Brüssel präsentieren, um dort eine Lobby zu schaffen – und um Fördermittel zu akquirieren.

Anne von Oswald: Es gibt ja bereits etliche Einrichtungen, die Material zur Migration gesammelt haben. Zum Beispiel das Dokumentationszentrum und Museum über die Immigration aus der Türkei in Köln, das DoMiT, wo sehr viele Quellen zur türkischen Immigration nach Deutschland archiviert wurden. Wenn möglich, sollen bei einem Migrationsmuseum aber auch die staatlichen und privaten Archive einbezogen werden.

Ihr sagt, wir leben in einer Einwanderungsgesellschaft. Viele Deutsche bestreiten das, vielleicht weil sie sich eben der Geschichte nicht bewusst sind. Ist es denn eines eurer Ziele, diesen gesellschaftlichen Konsens zu stiften, so dass klar wird: Deutschland war und ist ein Einwanderungsland?

Rainer Ohliger: Ich glaube, es besteht mittlerweile ein wachsendes Bewusstsein darüber, dass Deutschland in den letzten Jahrzehnten ein Einwanderungsland geworden ist, und diese soziale Tatsache wird im politischen und gesellschaftlichen Bereich zunehmend anerkannt, und zwar bis in die Mitte und in konservative Teile der Gesellschaft hinein. Einer Partei wie der CDU fällt es heute nicht mehr ausgesprochen schwer, Wörter wie „Einwanderung“, „Integration“ oder „Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes“ in den Mund zu nehmen oder sich Gedanken darüber zu machen, wie eingewanderte Menschen, die Teil und Produkt dieser Gesellschaft sind, auch dementsprechend angemessen repräsentiert und anerkannt werden können.

Die Ausstellungen, die ihr ins Auge fasst, könnten die westeuropäischen Länder in ein unrühmliches Licht rücken. Könnt Ihr euch vorstellen, dass eine eurer Ausstellungen so große Wellen schlägt wie die Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung?

Anne von Oswald: Uns würden die Probleme eher im Vorfeld treffen, wenn es zum Beispiel um Bilder geht, die die Unterkünfte für Arbeitsmigranten dokumentieren. Da damals die Arbeitgeber verpflichtet waren, die Unterkunft für die angeworbenen Arbeitskräfte zu stellen, liegen die Fotos oder andere Quellen zur Wohnsituation in den meisten Fällen bei den jeweiligen Unternehmen. Es kann jedoch passieren, dass dort das Material nicht mehr auffindbar ist, vernichtet wurde oder dass die Unternehmen einfach nicht bereit sind, es herauszugeben.

 Aber von wem sollte eine Debatte auch losgetreten werden? Es gab vor ein paar Jahren eine Ausstellung im Ruhrland-Museum in Essen über türkische Einwanderer in der Bundesrepublik. Damals entstand trotz breiter Öffentlichkeit keine größere Kontroverse. Die Mehrheitsgesellschaft will sich mit der Problematik kaum auseinander setzen.

Ihr arbeitet mit NGOs zusammen, um so gesellschaftspolitisch zu wirken. An welchem Punkt trefft ihr euch mit Organisationen, die aktive politische Arbeit leisten?

Rainer Ohliger: Das ist ein bisschen so wie in dem Verhältnis von Unternehmensberatern zu Unternehmen. Wir können Consulting anbieten, Expertisen liefern, wir können in einen Dialog eintreten, aber am Ende müssen sie ihre Entscheidungen und Aktivitäten selbst planen und verantworten.

Ein ganz pragmatischer Grund des Netzwerks ist, dass wir der Anlaufpunkt sind, der Kontakte und Adressen bereithält und Anfragen beantworten kann. Wir sind die Schnittstelle, die Informationen liefern kann, aber auch Projekte anstößt.

Der jüngste UNO-Klimabericht sagt großen Teilen der Dritten Welt Verwüstungen oder Überschwemmungen voraus. Den nördlichen Industrienationen stehen daher massenhafte Wanderungsbewegungen ins Haus, weil Menschen vor Klimakatastrophen fliehen werden. Wird Migration spätestens dann zu einem globalen Thema, dem man sich über den Tellerrand Europas hinaus stellen muss?

Rainer Ohliger: Historiker kann man schlecht nach Zukunftsszenarien befragen. Aber Deutschland hat in den letzten Jahren zum Beispiel mehr Auswanderer als Einwanderer gehabt, was in der öffentlichen Debatte nicht zur Kenntnis genommen wird. Man sollte das Thema ohnehin nicht zum Horrorszenario machen, sondern als realistische und unabdingbare gesellschaftliche Herausforderung verstehen, vor allem aber auch als Chance, zumal wir allen Studien zufolge in Zukunft auf Einwanderung angewiesen sein werden. Im Bereich hoch qualifizierter Arbeitskräfte wird es sogar einen Wettbewerb zwischen den Industriestaaten um Einwanderer geben. Das haben wir ja schon in der Green-Card-Debatte gesehen. Und da haben Sozialwissenschaftler und Historiker durchaus die Funktion, in Debatten mitzuwirken, um ein positives, historisch reflektiertes Deutungsangebot innerhalb der Einwanderungsgesellschaft zu liefern. Die Botschaft könnte folgendermaßen lauten: Einwanderung ist gestaltbar, gesellschaftlich verträglich, oft auch im aufgeklärten Eigeninteresse der Einwanderungsländer.

Was unterscheidet denn Migration heute von der Situation vor 100 oder 200 Jahren?

Rainer Ohliger: Die Gesellschaften Westeuropas sind heute potenziell besser informiert und pluraler. Auch befinden sie sich in einem aktiven Lernprozess, mit kultureller Vielfalt umzugehen. Es ist heute für einen Berliner aus Wilmersdorf keine außergewöhnliche Erfahrung mehr, Nachbarn zu haben, die aus Anatolien kommen. Im Alltag klappt das Zusammenleben trotz aller Übergriffe und Konflikte, die es gibt, auf einer pragmatischen, alltäglichen Ebene. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts oder im neunzehnten Jahrhundert waren krude rassistische Stereotype viel stärker ausgeprägt.

Und was hat sich für die Migranten selbst geändert?

Im transnationalen Bereich gibt es heute technische Möglichkeiten, die früher so nicht bestanden. Das hängt nicht unbedingt mit einer praktischen, sondern mit einer virtuellen Migration zusammen: Durch die technische Vernetzung der Welt – Computer, Fernsehen, Radio, moderne Transportmittel – ist eine Mobilität entstanden, die über den unmittelbaren Akt des Wanderns hinausgeht, gleichzeitig aber auch die Bedingungen dafür völlig verändert. So kann man durch die modernen Formen der Kommunikation an mehreren Orten zugleich sein. Nicht weil ich physisch wandere, sondern weil ich hier ein Bankkonto habe, dort ein Haus baue, ohne anwesend sein zu müssen, und an einem anderen, dritten Ort arbeite.