Gibt es Heterosexualität?

Lässt sich eines Tages selbst die spätere sexuelle Orientierung von Feten vorhersagen? Ein Essay über die Jagd nach einem Phantom

von GUNTER SCHMIDT

David Gold ist schwul und hat eine nette Familie – liberal, gehobene Mittelschicht, jüdisch – in New York. Mutter, Vater, seine Schwester Suzanne, auch deren Mann Rob akzeptieren seine Homosexualität. Die Toleranz ist so solide, dass sie David schon einmal sagen können, was ihnen bei Schwulen auf die Nerven geht, aber auch so heikel, dass sie Davids Freund Stephen bei Familienfeiern nicht sonderlich vermissen.

Als Suzanne schwanger wird, lässt sie sich pränatal nach neuesten Methoden screenen. Die Untersuchung ergibt mit neunzigprozentiger Sicherheit, dass der männliche Fetus einmal schwul wird. „Er wird wie David“, sagt Rob zu Suzanne, „er wird wie du“, sagt die Mutter zu David. Mit stillschweigender Billigung von Ehemann, Mutter und Vater treibt Suzanne das Kind ab. Ein verzweifelter Appell Davids konnte sie nicht mehr umstimmen. Der schwule Sohn trennt sich am Ende von seiner Familie.

Nichts als Theater? Der amerikanische Autor Jonathan Tolins hat sich diese Geschichte ausgedacht: „Der letzte Gold“ heißt das Stück, das mit großem Erfolg in den USA aufgeführt wurde. Sein Verfasser hätte sich für einen anderen Verlauf, eine andere Fiktion entscheiden können: Präimplantive Diagnostik, Genombehandlung des Fetus oder Hormongaben zur Korrektur des „homosexuellen“ (im Verständnis manches Neurobiologen „weiblichen“) Zwischenhirns. Suzanne hätte ein gesundes heterosexuelles Baby geboren. An Davids Bruch mit seiner Familie änderte das nichts. So oder so hätte er das Gefühl, sie habe auch ihn ausgelöscht.

Die Botschaft des Stücks ist düster: Hinter der Toleranz gegenüber Schwulen, die ja in den letzten zwanzig Jahren erheblich fortgeschritten ist, lauert die Vision einer schönen neuen Welt ohne sie, die Vision ihrer Abschaffung, sobald Gelegenheit dazu ist, präventiv, ganz demokratisch und selbstbestimmt mit dem Elternrecht, geltend gemacht gegen den für prähomosexuell gehaltenen Fetus.

Die im Stück angesprochenen genetischen und hirnanatomischen Besonderheiten Homosexueller haben zwei US-amerikanische Forscher, Dean Hamer und Simon LeVay, in die Diskussion gebracht. Beide leben offen schwul. Für beide ist das Stück noch Sciencefiction, aber natürlich könne die fiction schon morgen science werden. Die Sicherheit, mit der man sexuelle Neigungen voraussagen könne, werde fünfzig Prozent kaum übersteigen, meint Hamer, trotzdem seien Richtlinien für genetische Tests und Manipulationen nötig.

LeVay ist unbekümmerter. Die neunzigprozentige Prognosesicherheit, die durch das Stück geistert, stellt er nicht in Frage, doch die Konsequenzen einer vorgeburtlichen Diagnose homosexueller Neigungen sieht er im Stück pessimistisch verzerrt. Schließlich lebten wir in einer Kultur der Vielfalt, die Minderheiten respektiere. Und es gäbe ein Recht auf Wissen und ein Entscheidungsrecht der Mutter, und zwar nicht nur darüber, ob sie ein Kind, sondern auch welches Kind sie haben wolle.

Anders als Hamer und LeVay glaube ich nicht, dass Homosexualität pränatal festgestellt werden kann. Homosexualität ist ein komplexes, zudem kulturelles Phänomen, und damit kaum geeignet, sich biologisch vorhersehen zu lassen, bevor der Mensch die Welt, die soziale Welt betreten hat. Keinen Zweifel habe ich aber, dass es bald Wissenschaftler geben könnte, die reinen Herzens und besten Wissens behaupten, solche Vorhersagen seien möglich. Auf dem freien Markt der Medizin und im Rahmen pränataler Vorsorge werden dann Homosexualitätstests angeboten – und von vielen Eltern auch genutzt werden.

Die wissenschaftlichen Grundlagen solchen Handelns werden fiktiv sein, die Konsequenzen aber real – Abtreibungen von und medizinische Manipulationen an für homosexuell gehaltenen Feten. Das Problem ist nicht die pränatale Diagnostik, sondern die Tatsache, dass unterschiedliche sexuelle Orientierungen verschieden beurteilt werden. Fast alle werdenden Eltern würden vermutlich keine homosexuellen Kinder wollen. (So wie heute schon in einigen Ländern weibliche Feten in unbekannter Zahl abgetrieben werden, weil Jungen mehr gelten als Mädchen.) Es wäre, anders als bei den Nationalsozialisten, keine mit staatlichem Druck verfügte eugenische Maßnahme; vielmehr erfolgte die Selektion auf Wunsch der Eltern.

Eine solche Haltung nähme in Kauf, dass eine Gruppe von Menschen, die anders sind als andere – keineswegs nur Homosexuelle – prospektiv abgeschafft werden, und zwar aufgrund sozialer Bewertungen. Der traditionelle, mächtige Heterozentrismus, hochentwickelte Technologie und der freie Markt medizinischer Dienste – dieses Gemisch brächte viele Familien wie die Golds hervor. Das ist zu pessimistisch, werden viele einwenden, Sexualität ist überwiegend gesellschaftlich bestimmt. Trostlos aber bliebe der Anschlag auf die Homosexualität auch dann, wenn er nur versucht wird.

Die Geschichte des Verhältnisses von Medizin und Homosexualität in den letzten hundert Jahren zeigt zweierlei. Erstens sind bisher noch alle ätiologischen Hypothesen – biologische wie psychogenetische – postwendend gegen Homosexuelle gekehrt wurden: Kastration in den Zwanzigerjahren; operative Eingriffe im Zwischenhirn zur Zerstörung des „weiblichen“ Sexualzentrums in den Siebzigern; psychotherapeutische Kuren zur Auflösung der vermeintlich Homosexualität stiftenden Konflikte, Behandlung von „mädchenhaften“ Jungen im Sinne einer Vermännlichung. Zweitens haben sich alle ätiologischen Annahmen, die den Eingriffen zugrunde lagen, im Nachherein als falsch und zu simpel erwiesen.

Zwei Aspekte machen das von Tolins gezeigte Problem so brisant: Zum einen, dass wir eine „Kultur der Vielfalt“ nur rudimentär entwickelt haben. Zum anderen, dass wir immer noch inbrünstig an die scheinbar naturgegebene Polarität Heterosexualität/Homosexualität glauben und die sexuelle Welt nach ihr sortieren. Dabei ist das Wortpaar Hetero-/Homosexualität kaum mehr als hundert Jahre alt und diktiert doch souverän unsere Sicht von Liebe, Beziehung und Sexualität. Aber muss das so sein?

In einer Talkrunde über schwule Väter wurden vor einiger Zeit drei Männer vorgestellt, die mit ihren Ehefrauen und Kindern zusammengelebt hatten, bis sie in ihren dreißiger Lebensjahren allmählich oder plötzlich „wussten“ – auf dieses Wort kommt es an –, dass sie homosexuell sind. Alle taten so – die befragten Männer, der Moderator, die Ehefrauen, die Kinder –, als ob die schwulen Väter bis zu ihrem Coming-out im falschen Leben gelebt hätten, als ob sie immer so, nämlich homosexuell, gewesen seien, es nur nicht wussten, und dass sie nun bis ans Ende ihrer Tage schwul bleiben würden. Homosexuell – und vice versa heterosexuell – kann man heute offenbar nur lebenslänglich sein. Und, wie wir nun wissen sollen, nach Meinung einiger Wissenschaftler von Stund der Befruchtung an.

Warum kommt niemandem in den Sinn, dass diese Männer eine Zeit lang eine Frau liebten und eine Familie wollten, dann Männer begehrten und für ihre Kinder weiter sorgen wollten, und dass keiner weiß, auch sie selber nicht, was mit ihrer Liebe morgen, übermorgen oder in zehn Jahren sein wird?

Warum müssen wir ihnen und sie sich selbst eine lebenslange Diagnose verpassen? Weil wir unter dem machtvollen Vorurteil der Monosexualität leben und, betrachtet man unser Verhalten und Fühlen, so tun, als sei Monosexualität, die eingeschlechtliche Ausrichtung, ein ehernes Gesetz: Fast alle Zeitgenossen, Männer wie Frauen, Homosexuelle wie Heterosexuelle, über 95 Prozent der Bevölkerung, sind in merkwürdige Uniformität lebenslang und ausschließlich oder vorwiegend monosexuell, das heißt ihr Verlangen und ihre Liebe werden vom Geschlecht des Partners dominiert.

Das Gebot der Monosexualität ist die Megaregel unserer sexuellen Ordnung, das Gebot der Heterosexualität dieser nachgeordnet. Und: Schwule und Lesben, heterosexuelle Männer und heterosexuelle Frauen sind Verschworene, Komplizen der monosexuellen Ordnung. Sie verankert Ursprung und Bedeutung der sexuellen Orientierung fest ins Innere des Individuums, in seine Biografie, seinen Charakter oder seine Biologie. Soziale und historische Zusammenhänge sind nachgeordnet, wenn sie überhaupt vorkommen. Das aber ist eine relative junge Betrachtungsweise.

Michel Foucault hat als Erster darauf hingewiesen, dass erst seit Ende des 18. Jahrhunderts aus der Sünde der Sodomie, also aus einem bestimmten Akt oder Verhalten, allmählich ein besonderer Typus, eine besondere Art von Mensch wurde, ausgestattet mit besonderen Eigenschaften. „Als eine der Gestalten der Sexualität“, sagt Foucault, „ist die Homosexualität aufgetaucht, als sie von der Praktik der Sodomie zu einer Art innerer Androgynie, einem Hermaphroditismus der Seele herabgedrückt worden ist. Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle ist eine Spezies.“ Den „Urtext“ zu diesem Wandel vom sodomitisch Verirrten zum Homosexuellen schrieb Karl Heinrich Ulrichs in den Sechzigerjahren des 19. Jahrhunderts. Ulrichs, selber mannmännlich liebend, enthüllte die Natur und den Charakter des „Urnings“, wie er den homosexuellen Mann nannte.

Mediziner und Juristen seiner Zeit wurden mit ihren Abhandlungen zur Homosexualität bald zu Ulrichs' Koautoren – einerseits; andererseits waren sie seine erbitterten Kontrahenten, weil sie den Homosexuellen als krank, degeneriert oder kriminell beschrieben. Die weibliche Seele, die Ulrichs beim Urning im männlichen Körper gefangen sah und die er von gesellschaftlicher Unterdrückung befreien wollte, war für die Wissenschaftler Signum schwächlicher, weibischer, entarteter Männlichkeit.

Den negativen Festsetzungen homosexueller Eigenart durch Mediziner und Juristen setzten Homosexuelle also von Anfang an einen Diskurs entgegen, der homosexuelle „Identität“ positiv bestimmte. „Gay pride“ und seine Vorformen entstanden in den Homosexuellenbewegungen als Gegenentwurf zu gesellschaftlicher Diskriminierung. Homosexuelle und heterosexuelle Identität entstanden als reziproke Verrücktheiten.

Der Prozess der Schaffung einer homosexuellen oder heterosexuellen Selbstgewissheit ritualisierte und verfestigte sowohl die Hetero- als auch die Homosexualität bis zu ihrer Erstarrung. Dieser Prozess erstreckt sich über die letzten 150 Jahre und wurde in den letzten 25 Jahren noch einmal akzentuiert – scheinbar paradoxerweise auch durch das selbstbewusstere und öffentliche Auftreten der Schwulenbewegung. Am Verhalten Jugendlicher lässt sich dies ablesen. Von den sechzehn- und siebzehnjährigen Jungen, die durch unser Institut 1970 interviewt worden waren, gaben noch achtzehn Prozent an, schon einmal Sex mit einem Jungen gehabt zu haben; 1990 berichten nur noch zwei Prozent über solche Erfahrungen. Das sind erhebliche Veränderungen. Die Ursache scheint einfach: Durch die Allgegenwart der Kategorien homosexuell/heterosexuell etikettieren Jugendliche heute gleichgeschlechtliche Erlebnisse sehr schnell als „schwul“; aus spielerischer Lust am gegenseitigen Onanieren ist ein schwuler Akt geworden.

Es wäre vermutlich zu einfach, wollte man die Entstehung der heterosexuellen Identität nur als Reaktion auf die schwule Identität verstehen, etwa im Sinne von: Wenn man nicht schwul sein will, muss man sich heterosexuell begreifen. Wahrscheinlich machte die Abschleifung der Geschlechtsrollen durch das sich ändernde Geschlechterverhältnis (die Tatsache, dass sich Männer und Frauen im Hinblick auf Aufgaben, Funktionen und gesellschaftlichen Erwartungen immer weniger unterscheiden) die sexuelle Partnerwahl, das Verlangen nach der Frau, für das es nun einen Namen gab, zum Zeichen von Männlichkeit, zum Stempel männlicher Selbstgewissheit.

Jedenfalls schuf diese Entwicklung erst Zwangsheterosexualität und Zwangshomosexualität in der uns geläufigen Form und Heterosexualisten und Homosexualisten, die sich stur einer sexuellen Orientierung zuordnen und dies für die – im Wortsinn! – natürlichste Sache der Welt halten. Beiden behagen biologische Theorien über die Entstehung von Homo- und Heterosexualität. Die Suche nach der biologischen Essenz und der Furor, mit dem sie betrieben wird, soll die alten Verhältnisse festzimmern.

Die starren Kategorien könnten ins Wanken kommen. Es gibt bei jüngeren, gut ausgebildeten Männern, aber vor allem bei Frauen durchaus Anzeichen einer Lockerung monosexueller Beharrlichkeit – zumindest im Kopf. In unserer Studentenstudie halten sich lediglich achtzig Prozent der Männer und siebzig Prozent der Frauen für „ausschließlich“ heterosexuell; ein Drittel der Männer und fast drei Fünftel der Fauen fühlen sich zumindest gelegentlich vom gleichen Geschlecht erotisch angezogen. Frauen sind also durchweg flexibler als Männer. Bei den meisten Befragten aber verharren solche zarten Auflösungserscheinungen heterosexueller Verschlossenheit noch in Fantasie und Kognition – sie denken dran, sie machen es nicht.

Einen Ausweg weist der ungarische Schriftsteller Peter Nadas. In seinem Essay „Von der himmlischen und von der irdischen Liebe“ hat er die Utopie einer Sexualität jenseits starrer Orientierungen formuliert. Er will sich nicht einreden lassen, „dass ich die Augen noch so sehr aufreißen kann, und doch nur Frauen und Männer sehe“. Ein „solches Denken kann nicht anders, als sich an die alleroffenkundigsten physischen Gegebenheiten zu halten und Normen für die Liebeslust und Liebeshandlung an den Sexus, das Geschlecht zu binden. Für die menschliche Gattung als Ganzes gesehen sind die Folgen verheerend. Denn wenn ich Normen für Liebeslust und Liebesakt an die sich im Sexus manifestierenden Gegebenheiten binde, dann habe ich darauf verzichtet, von der Seele überhaupt erst zu sprechen.“

So einfach ist das. Und David Gold könnte wieder lachen.

GUNTER SCHMIDT, 63, ist Professor für Sexualwissenschaft an der Abteilung für Sexualforschung der Universität Hamburg