Die öffentliche Entführung

Ein Jahr nach Jolo entführt Arte in einen Geiseln-Themenabend. Die Dokumentation „ ,Ihr seid nur Tiere‘ – Die Geiseln von Jolo“ lässt zum Glück die Finger von der Tränendrüse (So., 22.55 Uhr, Arte)

Wenn. Ja, wenn. „Wenn man die Uhr zurückdrehen könnte“, sagt Werner Wallert, „dann würde ich heute einen anderen Weg einschlagen.“ Zurückspulen lassen sich nur Erinnerungen. Konservierte Zeit. Was das „Doku-Drama“ um die Entführung auf Jolo betrifft, fragt man nach dem Sinn des Schonwiederaufwärmens. Zum makaberen Einjährigen eine Geschichte erneut sezieren, deren Innereien schon beklemmend wie in einer anatomischen Sammlung zur Schau gestellt wurden? Die durch ihre Prominenz in den Medien längst ein Völlegefühl produziert hat. Die Antwort der Arte-Dokumentation „ ‚Ihr seid nur Tiere‘ – Die Geiseln von Jolo“, ist mehr als eine Verdauungshilfe.

Wenn man die Uhr zurückdrehen könnte, dann hätte Berichterstattung so sein müssen. Ohne Penetranz, aber mit der nötigen, über die Zeit freilich leichter herstellbaren Distanz. Mit noch unveröffentlichtem Archivmaterial einerseits, andererseits mit den noch immer gegenwärtigen Bildern einer Renate Wallert, die beim Peitschen einer Gewehrkugel weinend zusammenbricht. Szenen, die man ein zweites Mal zum ersten Mal sieht.

Dann nachgestellte Aufnahmen philippinischer Kinder, die den Zuschauer ohne Regung anstarren, Auge in Auge mit der Kamera. Das „Doku-Drama“, Orwells Big Brother wird fühlbar, wenigstens ein bisschen. Exoten für die Einheimischen, die noch nie zuvor Weiße gesehen hatten. Unter ständiger Bewachung durch Abbu Sayyaf, mit einem clownesken Anführer, der sich Commander Robot nennt und neben Geld auch Befriedigung seiner Geltungssucht erpresst. Und vor allem aber Sensationslieferanten für Journalisten, die kommen und gehen, während die Objekte der medialen Begierde bleiben. „Wie im Zoo“ habe er sich gefühlt, meint der Finne Risto Vahanen im Arte-Interview.

Die Autoren Raymond Ley und Mario Schmidt mischen Altes und Neues. Archivbilder aus dem Geiselcamp, dann fährt die Kamera zurück und zeigt die Szene auf Großleinwand am Hauptbahnhof, mit gaffenden Menschen davor oder über die Wohnzimmercouch hinweg im Fernseher. Ein filmischer Kniff, der dem Zuschauer die Manipulation von Wahrnehmung und den eigenen Voyeurismus bewusst macht.

Wie nah hat man sich den Geiseln durch die minutiösen, wenn auch nur minutenlangen Berichte geglaubt. Kein Vergleich zu den Interviews, die in der Dokumentation die Filmsequenzen unterbrechen. Als würde man eine alte CD wieder aus dem Regal kramen und sie zum ersten Mal bis zu Ende hören, nicht immer nur den einen Hit. Nähe, die durch Distanz entsteht. Weil die Kamera nicht aufdringlich wird. Weil die ehemaligen Geiseln zum ersten Mal erzählen und nicht nur antworten und aus zweidimensionalen Figuren reale Personen werden.

Vielleicht der Höhepunkt des Sonntags-Themenabends „Geiseln“. Zwischen dem Spielfilm „Hundstage“ (20.45 Uhr) über fiktive und der Dokumentation „Geld oder Leben – Das Millionengeschäft mit dem Kidnapping“ (23.55 Uhr) über die geheimen Geiselnahmen rollen Arte und NDR die öffentlichste aller Entführungen noch einmal auf.

Ohne Pflichtpathos, ohne anwaltschaftlichen Zeigefinger, kein Trommelfeuer auf die Tränendrüse. Betont unaufgeregt schildern die Autoren den Alltag in Geiselhaft, nehmen die Medien weder positiv noch negativ zu wichtig und zeigen die Absurdität der Häme Renate Wallert gegenüber auf, ohne sich in Vorwürfen zu ergehen, nur durch den Vergleich mit Frankreich oder Finnland, wo man Helden und keine Heulsusen empfangen hat. Und setzen sich mit ihrer einstündigen Dokumentation ganz bewusst zwischen die Stühle. Zeit, die man sich ruhig nehmen kann. SABRINA EBITSCH