Engagement und guter Wille sind zu wenig

Vom Selbstverständlichen im Umgang mit Menschen, Teil I: Vorwort. Oft fehlt eine Kompetenz der sachgerechten menschlichen Versorgung
von PETER FUCHS

■ Niemand will Behinderten Böses. Aber wie ist es in unserer Gesellschaft wirklich bestellt um den sachgerechten Umgang mit Menschen, die Versorgung brauchen? Dieser Frage geht diese Serie nach. Sie handelt – durchaus streitbar – von der pflegerischen Kompetenz jenseits von Pädagogik und Integrationswut

Es geht in letzter Zeit so viel vom Menschen die Rede, von seiner Zukunft, seiner womöglich sich ändernden Gestalt und Verfasstheit, davon, wie er zu sein hat und was er nicht sein darf oder was aus ihm werden könnte, zum Guten oder zum Schlechten. Die Rede ist abstrakt, sie gilt der Gattung, dem Schicksal der humanen Population, ihrem drohenden oder herbeigewünschten Geschick; sie gilt weniger den Lebensbewandtnissen von Frau Müller und Herrn Meier, von Cora, Mandy, Dirk oder Enrico, von Bill und George und Hinz und Kunz und noch weniger den Leuten, von denen aus gesehen die Spekulation über den Menschen und seine Zukunft unwichtig ist, weil sie es mit verweigerten Selbstverständlichkeiten zu tun haben, die ihre aktuelle Lebenszeit betreffen.

Die taz räumt mir nun dankenswerterweise den Platz und damit die Gelegenheit ein, für eine kleine Weile die Aufmerksamkeit umzulenken auf Leute in Verhältnissen und Zuständen, in denen das Selbstverständliche im Umgang von Menschen miteinander nicht immer selbstverständlich ist. Der Artikel heute ist der Portaltext einer auf mehrere Wochen hin geplanten Serie. Er ist, wenn man so will, ein Vorwort.

Ich schätze Vorworte. Sie geben Gelegenheit zur Selbstbeschreibung. In meinem Fall und für diese Serie ist sie notwendig. Denn ich bin Wissenschaftler, Soziologe und Systemtheoretiker, jemand also, der sich meistens mit exotischen Gegenständen beschäftigt, die außer ihn nur wenige Leute interessieren, und über deren Bedeutung für die Gesellschaft man sich wirklich streiten kann. Gleichwohl, die segensreiche Einrichtung der wissenschaftlichen Freiheit gestattet es mir, meinen Interessen nachzugehen, darüber Bücher und Aufsätze zu schreiben, Vorträge zu halten oder meine Studierenden mit Problemen zu belasten, die sie vermeiden könnten, wenn sie mir nicht zuhörten. Die Kehrseite jener Leidenschaft, die Interesse heißt, ist eine gewisse Zerstreutheit im Blick auf das, was man für lebenswichtig hält. Meine Familie weiß ein Lied davon zu singen. Ich werde mich hüten, ihr zu sagen, dass Zerstreutheit eine soziale Entlastungstechnik ist, die dem Wissenschaftler erlaubt ist, der Verkäuferin aber nicht, der sie als unverzeihliche Nachlässigkeit zugerechnet wird.

Im Gegensatz zu ihr darf ich Vereinbartes vergessen, so Auto fahren, wie ich gerade in Stimmung bin, gereizt sein und dafür den Vorwand haben, dass mir die Lösung eines Problems nicht einfällt. Eigentlich übe ich mein Amt aus, weil ich weniger vergesslich bin als andere Leute, jedenfalls es sein sollte, und so wäre meine Unaufmerksamkeit für Lebenswichtiges erstaunlich, ja müsste vermieden werden, wenn es nicht so wäre, dass ich das, was für lebenswichtig gehalten wird, unterscheide von dem, was mir lebensbedeutsam erscheint. Im Blick nämlich auf Lebensbedeutsames kann ich den Wissenschaftler vergessen, und eine dieser Lebensbedeutsamkeiten ist für mich das Leben und der Umgang mit schwer geistig und mehrfachbehinderten Menschen.

Wohlgemerkt, ich rede nicht vom paradigmatischen Rollstuhlfahrer, den Blinden, den Körperbehinderten, den leicht geistig Behinderten oder gar der sozialen Fiktion der Lernbehinderten. Da lässt sich leicht die Trompete der Integration blasen, der Normalisierung. Schließlich können diese Menschen noch für sich selbst reden, Verbesserungen ihrer Lebenslagen einfordern, soziale Schicksalsbereinigung verlangen im Zuge einer allgemeinen moralischen Gestimmtheit, die der Tragik abgeneigt ist und Gleichheit der Lebenschancen auf dem Hintergrund der Ungleichheit der faktischen Lebenschancen zu erreichen trachtet.

Ich rede von Menschen, denen es weitgehend verwehrt ist, für sich selbst zu sprechen, die sehr oft nicht einmal das Ansinnen verstünden, für sich selbst sprechen zu sollen. Sie können es nicht einmal dann, wenn ihre vitalen Lebensinteressen auf dem Spiel stehen, das Essen, der Schlaf, das Begehren, die Angst, das Spiel. Sie sind auf Gedeih und Verderb angewiesen auf diejenigen, die sie betreuen. Ihr Lebenszuschnitt, ihre Glücksmöglichkeiten hängen ganz und gar von anderen Menschen ab, von deren Können, Wissen, deren Zeit, deren Launen. Ich rede von Menschen, die nicht sehr vielen Leuten bekannt sind, die selten gesehen werden im Alltag, von Menschen, die in Sondereinrichtungen leben und viele Stunden des Tages von dafür bezahlten anderen Menschen versorgt werden.

Und schließlich, ich rede von Menschen, denen es nicht immer sehr gut geht.

Ich bin ferne davon, hier etwas skandalisieren zu wollen. Im Gegenteil: Selten findet man so viel guten Willen, so viel Engagement, so viel Reden über Engagement, so viel Märtyrertum wie bei denjenigen, die in der Arbeit mit schwer geistig und mehrfachbehinderten Menschen stehen. Aber selten auch, ich wage es zu sagen, findet sich so viel mangelndes Wissen, so viel Mutmaßung (statt Professionalität), so viel allzu menschliche Nachlässigkeit, aber auch so viel Humorlosigkeit. Natürlich sind es gute Menschen, die mit jenen anderen „defekten“ Menschen arbeiten. Sie sind es per se, durch Selbst- und Fremdzuschreibung. Was nehmen sie schließlich alles auf sich! Das Wickeln, das Füttern, das Schreien, die Aggression, den Speichel, die Hässlichkeit. Dass sie dafür bezahlt werden, steht auf einem anderen Blatt und muss nicht eigens hervorgehoben werden.

Nun, ich bestreite nicht die Gutheit der betreuenden Leute. Mögen sie es sein und sich im Glanz ihrer humanen Vortrefflichkeit sonnen. Was ich bestreite, das ist ihre Kompetenz. Es versteht sich, dass ich nicht alle Betreuer meine, da sei Gott vor, aber doch viele. Und was für eine Kompetenz bestreite ich? Nicht unbedingt diejenige (obwohl oft auch die), die die Behinderungsformen zu klassifizieren weiß, die verschiedenen Ansätze der Sonder-, Heil- oder Behindertenpädagogik kennt, basale Stimulation zu beschreiben versteht oder die nonverbalen Signale nicht kommunizierender Subjekte zu interpretieren unternimmt.

Ich meine eine ganz andere Kompetenz, die des sachgerechten menschlichen Umgangs mit anderen Menschen. Ich meine die Dimension des Selbstverständlichen, die ganz einfachen, die elementaren Selbstverständlichkeiten jenseits aller Pädagogik, aller Förderungs- und Integrationswut. Von dieser Kompetenz behaupte ich, dass sie nicht allenthalben verbreitet ist, von ihrem Fehlen, dass sie eine Hauptquelle des Leidens schwer geistig und mehrfachbehinderter Menschen ist. Hier fühle ich die Lust, Sturm zu laufen und mich einen Teufel um wissenschaftliche Begründungen zu kümmern.

Attacken zu reiten, ist jedoch eine wenig ersprießliche Angelegenheit. Der Angegriffene ist zu Recht verstimmt, man hat dann einen Konflikt, aber kaum einen Beitrag zur Änderung der Situation. So dachte ich mir, es könnte Sinn machen, ein seltsame Serie zu schreiben, seltsam, weil sie von Selbstverständlichkeiten handelt, seltsam auch, weil sie als Serie Regeln enthält, an denen die BetreuerInnen überprüfen können, ob sie sich an ihnen orientieren oder nicht. Sie sollten das im stillen Kämmerlein tun, mit einem hohen Maß an Selbstehrlichkeit.

Übrigens kommt es mir so vor, als sollten dies nicht nur die BetreuerInnen tun, gerade weil es um Selbstverständlichkeiten des Umgangs mit Menschen geht, um Behutsamkeiten im genauen Sinne des Wortes, von denen man nicht sagen kann, sie seien verbreitet in der modernen Gesellschaft, und von denen man wünschen möchte, sie seien als klassische Tugenden etwas weiter gestreut.

Aber wie auch immer, die Struktur der Serie ist einfach: Sie präsentiert Beobachtungen, plaudert über alltägliche Vorfälle und leitet Regeln ab, die hervorgehoben im Text stehen, mitunter auch als Anweisungen zur Selbstübung.

Zu Recht kann die Frage gestellt werden, was mich, den Soziologen und Theoretiker autorisiert, solche Texte zu verfassen. Nichts, würde ich antworten, außer einigen biografischen Zufälligkeiten. Ab 1971 stand ich unmittelbar in der Arbeit mit schwer geistig und mehrfachbehinderten Menschen, in Wohnheimen, Werkstätten, Sonderkindergärten. Von da her kenne ich die Seite der Betreuung sehr genau. In meiner Familie befinden sich seit über zwanzig Jahren behinderte Menschen, darunter ein außerordentlich schwer behinderter junger Mann, der vor zwei Jahren gestorben ist. Von daher kenne ich die Seite der elterlichen Betroffenheit. 1985 begann ich zu studieren, zunächst mit dem Ziel, Leiter einer entsprechenden Einrichtung werden zu können, später dann, auf Grund merkwürdiger Ereignisse, konzentrierte ich mich auf Soziologie, insbesondere Systemtheorie, verlor aber niemals das Phänomen Behinderung aus dem Blick.

Seit 1992 bin ich Professor für Allgemeine Soziologie und Soziologie der Behinderung an der Fachhochschule Neubrandenburg. Im Praxisschwerpunkt, der sich auf Behinderung bezieht, führe ich Veranstaltungen durch und bin im Übrigen beteiligt an Supervisionsprozessen, an der Herstellung kommunaler Behindertenpläne und einigem mehr, was in diesem Kontext anfällt. Ich kann versichern, dass keine der Beobachtungen dieser Serie sich allein der Fantasie verdankt. Aber sie stehen ein für viele vergleichbare Beobachtungen.

Das Ziel diese seltsamen Serie ist es nicht, diejenigen zu verärgern, die mit seiner Hilfe entdecken, dass sie das Selbstverständliche nicht beherrschen. Sie will eher helfen dabei, schwer geistig und mehrfachbehinderten Menschen das Leben durch einfache Maßnahmen leichter zu machen. Es möge ihnen, ohne die ich nicht leben mag und ohne die diese Gesellschaft sehr arm wäre, an diesem oder jenem Ort besser gehen, weil dieser Betreuer oder jene Betreuerin nach der Lektüre mehr an Aufmerksamkeit für selbstverständlich menschliches Verhalten gewonnen hat. Dass es nicht schaden kann, wenn Leute mitlesen, die in der Pflege und Versorgung alter Menschen tätig sind, versteht sich von selbst.

Schließlich liegen die Dinge ganz einfach. Eigentlich reicht schon jenseits aller hehren Humanismen ein bisschen sensibler Egoismus aus: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.