Hoch dosierte Sinnlichkeit

Umfassende Herbert-List-Retrospektive im Museum für Kunst und Gewerbe  ■ Von Jakob Michelsen

Es wurde auch Zeit: Nach Stationen in München und Köln ist die bisher umfassendste Retrospektive des Fotografen Herbert List (1903-1975) nun in Hamburg zu sehen. List wuchs hier als Sohn eines wohlhabenden Kaffee-Großhändlers auf und besuchte das vornehme Johanneum. Der Eintritt ins väterliche Geschäft war eine Pflichtübung; in seiner Freizeit sammelte er eine bunte Bohème-Mischung aus KünstlerInnen, LiteratInnen und jungen Männern um sich. Das Fotografieren begann er als Hobby. Das Lebensgefühl im Umfeld des jungen Kaufmanns schildert der britische Autor Stephen Spender, der ihn 1929 kennen lernte, in seinem Roman The Temple als Inbegriff der Freiheit der Weimarer Republik vor dem bösen Ende durch den Nationalsozialismus.

Der an sich politisch wenig inte-ressierte List sah in den neuen Machthabern einen Pöbelhaufen, der das Leben in Deutschland immer schwerer erträglich machte, zumal er als „Vierteljude“ zunehmenden Restriktionen ausgesetzt war. Auch als Homosexueller wurde das Leben nach der Verschärfung des Paragrafen 175 und zunehmender Verfolgung durch die Gestapo nicht gerade leichter. An seinem Geschäft hing List ohnehin nicht allzu sehr, und so entschloss er sich 1936 zur Emigration und zum Berufswechsel: Er wurde professioneller Fotograf. Nach einem Aufenthalt in Frankreich lebte er später in Griechenland. Nach dem deutschen Einmarsch 1941 ließ er sich in München nieder. Lists Ruf in den 30er bis 50er Jahren beruhte auf seinen Stillleben sowie auf Bildern von Ruinen und antiken Statuen, die er in Griechenland aufgenommen hatte. Einen genauen Blick aufs Detail verband er mit raffinierter Lichtregie zu einer unwirklichen Atmosphäre, in der die Dinge ein seltsames Eigenleben gewinnen. Auf dem Bild zweier Sonnenbrillen an einem Seeufer beispielsweise scheinen die beiden „Protagonisten“ miteinander zu kommunizieren. Im Gegenzug werden Menschen wie Statuen inszeniert. Hinzu kommen surrealistisch wirkende Effekte durch Spiegel und Doppelbelichtungen. Der Kunstkritiker Egon Vietta prägte für diese Bilder die Bezeichnung „Fotografia metafisica“, analog zur „Pittura metafisica“ Giorgio de Chiricos. Der heute wohl bekannteste Teil von Lists Oeuvre, die Männerakte, wurden größtenteils erst posthum veröffentlicht. Man kann sie dennoch als stilbildend bezeichnen; nicht nur der Calvin-Klein-Werbefotograf Bruce Weber bekennt sich zu ihnen als Vorbild. List inszenierte ein Jünglingsideal, gemischt aus Hellas-Romantik und Wandervogel-Erotik. Bei perfekter Herausarbeitung von Details wie Brustwarzen, Flaum auf der Haut oder der Beule im Schritt haben diese Bilder wenig mit offensiver Pornographie wie etwa der eines Robert Mapplethorpe gemein, sondern zeigen eine äußerst subtile, dabei aber hoch dosierte Sinnlichkeit.

Im Begleitband findet sich ein kluger Essay von Edmund White, worin dieser die Frage aufwirft, inwieweit die männlich-homosexuelle Variante eines von Jugendbewegung und Nacktkultur inspirierten Körperkultes Verwandtschaft mit NS-Ästhetik aufweist, unter Hinweis auf einige von Lists Bildern, auf denen die Protagonisten in monumentalisierender Untersicht gen Himmel ragen.

Mit Recht verweist White auf gemeinsame Wurzeln in männerbündischen Strömungen der Jugend- und Lebensreformbewegung. Überdies besitzt Körperkult immer auch eine normierende Seite. Dennoch hat White Recht, wenn er Lists Bilder von denen etwa einer Leni Riefenstahl deutlich abgrenzt; seine Begründung – Riefenstahl präsentiere Idealtypen, List Individuen – greift freilich zu kurz, denn die jungen Männer auf Lists Bildern bleiben in den meisten Fällen anonym und verkörpern ebenfalls Idealbilder. Was sie jedoch eindeutig zu nicht-faschistischer Kunst macht, ist das Fehlen des Kampf- und Opfermythos, wie ihn Riefenstahl oder Arno Breker ins Bild setzen. Lists Bildern fehlt alles Martialische, sie propagieren weder ein athletisches noch ein militaristisches Ideal, sondern ein romantisch-träumerisches; manchmal sicherlich pathetisch, aber die körperliche Schönheit scheint einfach da zu sein, sie wird weder gegen sich selbst noch gegen andere (Juden, „Lebensunwerte“) erkämpft.

Nicht unerwähnt bleiben sollen auch einige der KünstlerInnenporträts, darunter ein sehr sarkastisches der alternden Marlene Dietrich. Kurz: Zu entdecken ist ein bemerkenswertes fotografisches Oevre, das im Hamburg der Weimarer Republik seinen Ausgang nahm.

bis 24. Juni, Museum für Kunst und Gewerbe; Begleitbuch: Herbert List. Die Monographie. Hg. Max Scheler u. Matthias Harder, München 2000; 78 Mark