Die Wunderkinder von Pawlowsk

Im russischen Pawlowsk bei Sankt Petersburg sind im „Kinderheim Nr. 4“ sechshundert geistig und seelisch behinderte Kinder im Alter von vier bis achtzehn Jahren untergebracht. „Korpus 4“ wird das Heim genannt. Hier wohnen die Schwächsten, abgeschoben und vergessen von ihren Eltern. Viele sterben in den ersten sechs Monaten nach ihrer Einweisung

von PETER DAMMANN

Nelja sei autistisch, hieß es 1996, als eine deutsche Krankentherapeutin durch den Korpus 4 geführt wurde. In der Gruppe 32 lag ein ängstliches Mädchen in ihrem Bett. Sie war so dünn, dass sie durchsichtig schien; ihre Augen waren schwarze Höhlen in einem bleichen Gesicht. Nelja war klein wie eine Dreijährige, dabei war sie gerade fünf Jahre alt geworden. Sie konnte nicht allein essen, sich nicht anziehen, nicht laufen, und sie sprach kein Wort.

Um die zwölf Kinder der „liegenden Gruppe“, die wie Nelja alle nicht laufen konnten und auf Gummimatten in ihren Betten lagen, kümmert sich nur eine Sanitarka. Die Sanitarkas sind meist Rentnerinnen, die durch ihre Arbeit im Heim ihre bescheidenen Pensionen aufbessern. Sie arbeiten in 24-Stunden-Schichten, sind schlecht bezahlt, nicht ausgebildet und mit zwölf behinderten Kindern völlig überfordert. Oft bleibt keine Zeit, um die Kinder auch nur einmal in der Woche zu baden. Durch Urin und verkrusteten Dreck entstanden bei den Kindern Entzündungen, die mit grünem Jod bepinselt wurden.

Der Gestank von Urin, Kot, feuchter Wäsche und gekochtem Kohl mischte sich mit dem Weinen der Hilflosen. Keines der Kinder hat noch Kontakt zu den Eltern oder Verwandten. Es sind Abgeschobene, Vergessene. Dies muss eine Vorstufe zur Hölle sein, haben viele Besucher gedacht – solange, bis sie das Lachen sahen. Die Kinder freuen sich über jedes bisschen Zuwendung.

Im Oktober 1996 begannen fünf deutsche Jugendliche ihren Friedensdienst im Korpus 4. Der Verein „Perspektiven e.V.“ hatte zusammen mit der „Initiative Christen für Europa“ junge Frauen für ein soziales Jahr und junge Männer als Zivildienstleistende für die Arbeit in Pawlowsk angeworben. In vierwöchigen Kursen wurden sie in deutschen Heimen vorbereitet und von Krankentherapeuten des Vereins in Pawlowsk eingearbeitet.

Als eine Krankentherapeutin die vermeintliche Autistin Nelja in das neue Spielzimmer mitnahm, fand das Mädchen schon nach einer Stunde Spaß am Ballspiel. Ein russischer Arzt, der das sah, meinte: „Nelja ist ein Wunderkind.“ Seit fünf Jahren gibt es immer wieder Wunderkinder in Pawlowsk, Kinder, die ohne Liebe und Förderung zurückgezogen auf den Gummimatten dahinvegetierten, dann aber durch die Arbeit der Freiwilligen aufblühen.

Die Friedensdienstleistenden sorgten dafür, dass den Kindern nicht mehr die Köpfe zu Glatzen geschoren werden, jedes Kind bekommt nun einen Haarschnitt. Gefüttert werden die Kinder nicht mehr im Bett, sondern auf dem Schoß, außer Nahrung gibt es so auch Körperkontakt. Wer es lernen konnte, begann an einem Tisch zu essen. Alle Kinder werden jetzt jede Woche gebadet, das ist eine körperlich anstrengende Arbeit, aber eine riesige Freude für die Kinder. Aber das Schönste ist das Spielzimmer.

Die Kinder lieben ihre Fridas und Fredis, wie sich die Friedensdienstleistenden nennen, wie Verdurstende das Wasser. Jeden Morgen erwarten sie die jungen Frauen und Männer sehnsüchtig. Diese Begrüßungen sind so warm und herzlich, dass sie kein Freiwilliger vergessen kann. Durch die Beziehungen zu den Kindern wachsen die Freiwilligen, die oft direkt aus dem Elternhaus und nach dem Abitur nach St. Petersburg kommen. Die Großmutter eines Heimkindes schrieb dazu an die Initiative Christen für Europa: „Ich möchte Ihnen und Ihren Freiwilligen meine tiefe Dankbarkeit ausdrücken ... Ihre jungen Frauen und Männer sind sehr aufmerksam und zärtlich mit den Kindern. Die Kinder lieben sie und freuen sich über ihr Kommen. Ich danke auch den Eltern, die diese barmherzigen Bürger Deutschlands erzogen haben.“

Die Entwicklung der Freiwilligen ist auch in den Arbeitsberichten ablesbar. Und wenn die erst neunzehnjährige Assoll in ihren Abschlussbericht folgende Beobachtung vermittelt, dann hat sie mehr begriffen vom Leben, als viele in ihrem Alter: „Was allen Besuchern auffällt, ist das Lachen der Kinder. Aber auch der kleine Andrej hat Fortschritte gemacht. Als ich ihn kennen lernte, lag er nur lautlos im Bett, und auf seinem Gesicht waren keine Gefühlsregungen zu erkennen. Jetzt fängt er an zu weinen, wenn ich ihn wieder ins Bett lege. Andrej musste erst weinen lernen.“

Im Oktober hat der fünfte Jahrgang der Friedensdienstleistenden seine Arbeit in Pawlowsk begonnen. Inzwischen arbeiten zehn Freiwillige – fünf deutsche und fünf russische Frauen und Männer – im Haus 4. Es gibt nicht nur ein, sondern drei Spielzimmer. Neu sind außerdem ein Entspannungs- und ein Massagezimmer, zwei Schulräume, eine Spielgruppe und ein Fahrstuhl. Drei Badezimmer und Toiletten wurden renoviert und neu ausgestattet.

Ein russisches Fernsehteam, dass einen Betroffenheitsfilm für eine deutsche Organisation drehen wollte, um dadurch mehr Spenden sammeln zu können, lehnte es ab, im Haus 4 zu drehen. Es war ihnen dort zu schön. Aber es sind nicht nur die Räume, die gesamte Atmosphäre hat sich in den letzten Jahren zum Besseren gewendet. Ein wichtiger Durchbruch war die Integration der Heimangestellten. Es begann erst im vorletzten Jahr, als der Verein den Sanitarkas und den Erzieherinnen anbot, ihnen zwei Stunden zu bezahlen, wenn sie nach ihrem Dienst mit einem Kind in den Garten gehen. Es ging danach zu wie in einem Bienenstock, ein ständiges Kommen und Gehen. Endlich kamen die Kinder öfter an die frische Luft. Durch die neue Spielgruppe und die Schulkindergruppen können inzwischen viele Heimangestellten ihre Hungerlöhne aufbessern.

Aber das größte Problem ist noch nicht gelöst. Schon vor fünf Jahren hatte der Korpus 4 bei den Angestellten den Namen „Haus des Todes“. Immer noch sterben viele Kinder. Eine Frida schrieb 1999 in ihrem ersten Arbeitsbericht – sie war gerade fünf Wochen in Pawlowsk: „Ich arbeite in der Gruppe 42, erst letzte Nacht ist wieder ein Junge gestorben, zehn Jahre alt. Nur eine Woche seines Lebens hat er im Heim verbracht und ist dann von uns gegangen, ohne sich zu verabschieden. Am Anfang des Monats starben Julia und Olja, drei Wochen später Sascha. Bei Sascha erlebte ich den Prozess, der zum Tod führt, am deutlichsten: Aus dem Säuglingsheim gekommen, verlor er nach wenigen Wochen ganz plötzlich den Lebenswillen. Er brach alles Essen wieder aus und wurde von Tag zu Tag dünner, schwächer und durchsichtiger. Ich versuchte ihm seinen Lebensmut wieder zurückzugeben, zog ihn an und nahm ihn, so oft es ging, mit ins Spielzimmer. Ich fand einen Stuhl für ihn, damit er nicht den ganzen Tag im stinkigen Bett liegen musste. Meine Zeit für Sascha hat nicht ausgereicht, da waren ja noch zwölf andere Kinder. Es ist die Hilflosigkeit, die so schmerzt. Und das schale Gefühl, dass nach einem oder zwei Tagen, die du nicht da bist, wieder ein Bettchen leer sein könnte.“

Vorigen Sommer starben in sechs Wochen zwölf Kinder im Haus 4. Ihnen werden in den Betten die Kinnladen zugebunden, dann kommen sie in einen ekligen Raum im Keller in eine Holzkiste – wegen der Ratten. Später werden sie von einem Krankenwagen abgeholt und anonym begraben – es bleibt nichts von ihnen.

Im ersten Jahr standen die Friedensdienstleistenden völlig hilflos vor diesem Umgang mit dem Tod. Jetzt treffen sie sich, wenn ein Kind gestorben ist, zünden eine Kerze an und erzählen, welche Erlebnisse sie mit dem Kind hatten. In ein Buch wird ein Foto des Kinder geklebt und die Erinnerungen an das Kind aufgeschrieben.

Die meisten Kinder sterben in den ersten sechs Monaten nach ihrer Einweisung aus den Säuglingsheimen. Dort gibt es mehr Personal, für die Kinder ist die Umsetzung ein Schock, weil sie wie ein Blumentopf in eine fremde Umgebung gestellt werden. Jetzt soll eine Aufnahmegruppe eröffnet werden, mit mehr Personal, mit einer intensiven Betreuung, um Zeit für ein Kennenlernen zu haben. Die Hoffnung ist, dass so mehr Kinder überleben.

Nelja hat überlebt, für sie kam der erste Jahrgang der Freiwilligen zur rechten Zeit. Heute ist die vermeintliche Autistin die Prinzessin der Gruppe 32. Nelja spricht noch nicht, aber Nelja isst allein, kann sich selbstständig anziehen und hat Laufen gelernt. Inzwischen geht sie sogar in die Schule. Der Prozess ist das Ziel, so heißt das Motto der Lehrer. Nicht die Resultate, sondern die Lernprozesse und die Freude dabei sind wichtig. Nelja, jetzt zehn Jahre alt, hat Spaß an der Schule. Aus dem ängstlichen Mädchen ist ein lebenslustiges Kind geworden. Als sie letzte Woche erkältet war, sollte sie im Bett bleiben, aber sie kletterte heraus, zog sich an und rannte los – in die Schule.

Kontakt: Perspektiven e.V. – Gemeinschaft zur Unterstützung von Projekten für sozial Benachteiligte in Osteuropa, Simmelstraße 19, 13409 Berlin, Fon (0 30) 4 91 79 90. Ansprechpartnerin ist Erika Haase PETER DAMMANN, 50, ist Fotograf, spezialisiert auf Reportagen über Kinder in Osteuropa. Seit 1987 arbeitet er für die taz. Von ihm erschien: „Wir sind klüger als ihr denkt. Straßenkinder in Sankt Petersburg“, Dölling und Galitz, Hamburg 1995, 71 Seiten, 29,80 Mark