Der größte Marktplatz der Welt

von ANNE HUFFSCHMID
, ELLY JUNGHANS,
INGO MALCHER und KATHARINA KOUFEN

„America first“, der traditionelle Leitsatz US-amerikanischer Politiker, erhält in diesen Tagen eine neue Bedeutung: Nicht mehr nur die USA, sondern alle 34 amerikanischen Staaten (mit Ausnahme Kubas) sind dem Präsidenten plötzlich wichtig. So wichtig, dass er sie alle möglichst bis 2005 in einer gemeinsame Freihandelszone vereinen möchte. Sonst nämlich, so fürchtet George W. Bush, könnten die einzelnen Regionen sich zu stark nach Europa orientieren.

Den US-Unternehmen winkt ein grenzenloser Markt von mehr als 800 Millionen Verbrauchern. Die Amerikanische Freihandelszone (FTAA) wäre der größte Handelsblock der Welt. Länder wie Brasilien müssten ihre Märkte für Telekommunikation und Energie öffnen. Die US-Pharmakonzerne könnten ihre Patente für Medikamente besser schützen. Zugleich würden Agrarprodukte, Stahl oder Textilien in den USA noch billiger.

Doch ganz so einfach, wie der Präsident es gerne hätte, wird die Schaffung der Freihandelszone nicht: Bush braucht vom US-Kongress freie Hand für die schwierigen Verhandlungen mit selbstbewussten und weit entwickelten Ländern wie Brasilien. Auch in seiner republikanischen Partei gibt es Interessen, die dem Freihandel entgegenstehen, vor allem wenn es um den Abbau versteckter Subventionen für die Landwirtschaft oder die Textilindustrie geht.

Insgesamt hofft Bush mit seiner Hinwendung zum eigenen Kontinent jedoch innenpolitisch den richtigen Nerv zu treffen. In den USA leben inzwischen ebenso viele Latinos wie Schwarze. Für viele Einwanderer aus Lateinamerika hat das Versprechen größeren Wohlstandes für ihre Heimatländer einen guten Klang.

Das Beispiel Nafta

Dass die Realität in den lateinamerikanischen Ländern dann anders aussieht, steht auf einem anderen Blatt. Einen Vorgeschmack auf das, was die neue Zone bringen könnte, lieferte bereits die nordamerikanische Freihandelszone Nafta. Sie besteht seit 1994 aus Mexiko, den USA und Kanada. Aus zwei hoch entwickelten Industrieländern und einem Schwellenland also, dessen Einwohner im Durchschnitt nur etwa ein Achtel dessen verdienen, was die nördlichen Nachbarn zur Verfügung haben.

Auf den allerersten Blick erscheint die Bilanz trotz der Ungleichheit beachtlich: Die mexikanischen Ausfuhren in die USA haben sich seit dieser Zeit nahezu verdreifacht, im Jahr 2000 hat Mexiko – nach Kanada – endlich den ersehnten zweiten Platz in der Rangliste der Handelspartner der USA erklommen. So gingen letztes Jahr 89 Prozent aller mexikanischen Verkäufe gen Norden, rund drei Viertel aller Produkte wurden aus den USA bezogen.

Wie gefährlich diese extreme Abhängigkeit dem Little Brother südlich des Rio Grande werden kann, bekommt Mexiko nun im Zuge der Konjunkturrückgangs im Norden zu spüren. „Ein Schnupfen in den USA kann in Mexiko leicht eine Lungenentzündung werden“, besagt ein populäres Sprichwort. Waren die Exporte (außer Erdöl) letztes Jahr noch um ein Fünftel gestiegen, so rechnet die Außenhandelsbank dieses Jahr nur mit einer sechsprozentigen Steigerung.

Zudem geht knapp die Hälfte des Exportbooms auf das Konto der Maquiladora-Industrie: Vor- und Zwischenprodukte wie Stoffe werden über die Grenze nach Mexiko eingeführt. Dort werden sie zu Niedriglöhnen in provisorisch aufgebauten Zelten zu T-Shirts genäht und umgehend wieder zurückexportiert – zu über 90 Prozent in die USA. Bis auf Beschäftigungseffekte haben die so genannten Lohnveredelungs-Fabriken keinerlei Impulse auf die mexikanische Wirtschaft: Gerade zwei bis drei Prozent ihrer Aufträge beziehen sie aus heimischen Betrieben. Und für mexikanische Arbeitnehmer ist es schwer wie eh und je, ein Visum für die USA zu bekommen.

Das Gros der Kleinunternehmer und Mittelständler, so klagt der Vorsitzende der Nationalen Import/Export-Vereinigung Anierm, Fernando Correa Mota, habe hingegen von der Zollbefreiung „nicht profitiert“. Mangels industriepolitischer Steuerung habe die Freihandelspolitik statt zu Prosperität eher zur Polarisierung des Landes geführt, sagt auch der Ökonom Enrique Dussel Peters.

Besonders schmerzhaft erwies sich die Freihandelszone für die mexikanische Landwirtschaft. Als „Desaster“ bezeichnete die Agrarökonomin Yolanda Trapaga die „Nicht-Politik“ im Agrarsektor, die Landwirte und Maisbauern schutzlos der – ungleich produktiveren – Konkurrenz aus dem Norden ausgeliefert habe. Beispielsweise haben sich die Fleischimporte aus den USA nahezu verdoppelt, während die mexikanischen Fleischverkäufe um fast 40 Prozent zurückgegangen sind. Rund 18 Millionen MexikanerInnen leben bis heute vom Maisanbau. Für viele lohnt sich die Bewirtschaftung ihrer kleinen Maisfelder nicht mehr. Nur die robusteren Landwirte und Agrobetriebe haben sich umgestellt und kultivieren statt Mais und Getreide für den Binnen- nun Tropenfrüchte und Gemüse für den Weltmarkt. So ist das traditionelle Maisland Mexiko dank Freihandel mittlerweile auf Getreideimporte angewiesen.

Den neuen Präsidenten Vicente Fox lassen derlei Zahlenspiele kalt. Vor ausländischen Journalisten sagte der Freihandelsfan: „Bei einem Handelsabkommen gibt es immer Verlierer- und Gewinnerbranchen.“

Das Beispiel Mercosur

Anders als Mexiko und Zentralamerika, wo Freihandel vor allem Freihandel mit den USA bedeutet, orientieren sich die Länder am Südzipfel des Kontinents traditionell lieber nach Europa als nach dem wenig geliebten großen Bruder. Vor allem Henrique Cardoso, Präsident der zweitgrößten amerikanischen Wirtschaftsmacht Brasilien und heftigster Gegenspieler von Präsident George W. Bush, fürchtet die Dominanz aus dem Norden. Alleine die Wirtschaftleistung der Vereinigten Staaten ist mehr als fünfmal so groß wie die aller übrigen Staaten des Doppelkontinents zusammen.

Die Regierungschefs des südlichen Südamerikas möchten ihren eigenen Weg hin zur Weltmarktintegration gehen. Daher haben Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguya bereits 1991 die Zollunion Mercosur gegründet. Mittlerweile sind auch Chile und Bolivien assoziiert. Nach dem Vorbild der EU haben die Länder sich letzten Herbst auf Konvergenzkritierien geeinigt, über die sie ihre Finanzpolitik aneinander angleichen wollen.

Weltmarktintegration heißt aber, dass mit allen großen Handelsblöcken Wirtschaftsabkommen geschlossen werden. So verhandeln die Südamerikaner derzeit auch mit der Europäischen Union über die Gründung einer gemeinsamen Freihandelszone. Immerhin werden mehr als ein Viertel der Mercosur-Exporte nach Europa verschifft, nur 18,4 Prozent fließen in die USA. Damit ist die EU der wichtigste Handelspartner des Mercosur.

Der Knackpunkt bei den Verhandlungen sowohl mit den USA als auch mit der EU sind, wie immer, die Agrarsubventionen. Als „höchst gefährlich für die Landwirtschaft der Gemeinschaft“ bezeichnete schon vor Jahren ein französischer Agrarminister ein Freihandelsabkommen mit dem Mercosur. Auch die USA zeigen sich wenig geneigt, Weizen, Soja und Rindfleisch von den Nachbarn im Süden des Kontinents ins Land zu lassen. Von dieser ablehnden Haltung wäre vor allem Argentinien betroffen, das hauptsächlich Agrarprodukte exportiert. Brasilien hingegen mit seiner stärker entwickelten Industrie würde von beiden Varianten profitieren.

Innerhalb des Mercosur streiten sich die Länder darüber, wie mit den USA über die Schaffung der FTAA verhandelt werden soll. Brasilien will zunächst die regionale Integration im Mercosur vorantreiben und dann gestärkt als gemeinsamer Block in die Verhandlungen mit den USA zur Schaffung der neuen Mega-Freihandleszone gehen. „Die FTAA ist eine Option. Der Mercosur ist unsere Bestimmung“, beschwört Präsident Cardoso seine Kollegen aus den Nachbarstaaten. Nicht ohne Grund: Brasilien hat derzeit die führende Stellung innerhalb des Mercosur, die es ungern an die USA abtritt.

Argentinien, Chile und Uruguay ziehen jedoch Einzelgespräche mit den USA vor. Ihre Hoffnung: Ein schneller Nafta-Beitritt, denn die drei nordamerikanischen Länder sind neben dem Mercosur ohnehin die Einzigen, bei denen sich etwas holen lässt. Argentinien war sich lange unschlüssig, ob es lieber seine Macht in der Region ausbauen will oder im Alleingang Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten aufnehmen soll, träumte man doch von der Einführung des Dollars.

Argentiniens wiederbelebter Superminister Domingo Cavallo machte solchen Träumen letzte Woche allerdings ein jähes Ende: Er ließ den stark überbewerteten Peso an einen Währungskorb aus Dollar und dem billigeren Euro koppeln. Damit zurrte er währungspolitisch fest, was seine Region auch beim Freihandel anstrebt: eine Orientierung sowohl Richtung Nordamerika als auch Richtung Europa.