Sturmvögel der Bewegung

Die gemeinsame Arbeit an Vorstellungen über „nachfordistische Modelle“ von Arbeit, Gesellschaft und Leben wird jetzt zur Schlüsselfrage

Das Kernanliegen von Pierre Bourdieus Initiative ist so wichtig und richtig, dass es die Neigung hervorruft, kritische Einwände gegen einige analytische und strategische Einschätzungen gar nicht erst vorzutragen. Kein Zweifel: Eine transnationale, mobilisierungsfähige soziale Bewegung ist unverzichtbar. Ihr käme vor allem die Aufgabe zu, aus der „globalen Zivilgesellschaft“ jene Opposition gegen den entfesselten Shareholder-Kapitalismus zu organisieren, die im politischen Institutionensystem längst verschwunden ist.

Auch die Hoffnung, dass sich die mitunter recht „unkonventionell“ agierenden Protestinitiativen, die sich seit geraumer Zeit anlässlich der offiziellen Globalisierungstreffen zu Wort melden, als Sturmvögel dieser Bewegung erweisen werden, ist zu sympathisch, um gegen sie argumentieren zu können. Und schließlich wäre der bündnispolitische Brückenschlag zu den Gewerkschaften und jenen Intellektuellen, die sich nicht durch den Abschied von kapitalismuskritischen Ansichten in letzter Minute noch auf die Seite der historischen Sieger retten wollen, zu unterstützen.

Das Fundament dieser Gemeinsamkeiten hält aber auch die Diskussion über etwaige Differenzen aus. Eine solche könnte über die Einschätzung der aktuellen Ausgangslage in Europa bestehen. Die Formel vom „Kampf gegen den Neoliberalismus“ scheint mir für sich genommen problematisch. Denn die politische Landkarte Europas hat sich verändert. Anstelle des alten, neoliberalen Blocks hat sich in den meisten europäischen Ländern die Sozialdemokratie des „Dritten Weges“ als führende Regierungspartei durchgesetzt.

Die Akzeptanz der „Neuen Mitte“

Die „neue Sozialdemokratie“ hat aus dem Scheitern des „alten Neoliberalismus“ gelernt. Sie verzichtet auf die Konfrontationsstrategie gegen die Gewerkschaften und bindet sie statt dessen auf europäischer wie auf nationaler Ebene in Sozialpakte ein. Und sie würzt die neue Standortpolitik mit Zugeständnissen in der Steuer- oder Familienpolitik, die bei der Bevölkerung durchaus auf breite Zustimmung stoßen.

Diese politische Konstellation ist auch bei der Analyse der europäischen Gewerkschaftsbewegung zu berücksichtigen. Ihre Einbindung in die nationalen Wettbewerbspakte auf Eigendynamiken in den Apparaten zurückzuführen griffe zu kurz. Weniger die Eigeninteressen der Gewerkschaftsapparate als die Strukturkrise des fordistischen Kapitalismus und seine Folgeprobleme (Massenarbeitslosigkeit, neue Arbeits- und Rationalisierungskonzepte usw.) sind für die Krise der Gewerkschaftsbewegung verantwortlich.

Beide Hinweise sind keineswegs Anlässe zu politischer Entwarnung. Denn der neue Korporatismus der neuen Sozialdemokratie hat sich keineswegs vom Ziel des wettbewerbspolitischen Umbaus der Gesellschaft verabschiedet. Aber sowohl die Akzeptanz der „Neuen Mitte“ in Teilen der Bevölkerung als auch der Verweis auf die tiefer liegenden Ursachen der Gewerkschaftskrise signalisieren, dass es weder mit Apparatekritik noch einem entschlossenem Antineoliberalismus-Gestus getan ist; sondern dass die Politisierung einer sozialen Bewegung nur über das Aufzeigen von Alternativstrategien sowohl zur neoliberalen wie zur neosozialdemokratischen Modernisierungspolitik gelingen kann. Somit wird die gemeinsame Arbeit an Vorstellungen über „nachfordistische Modelle“ von Arbeit, Gesellschaft und Leben zur Schlüsselfrage.

Suche nach praktischen Initiativen

Noch größer ist die Herausforderung freilich mit Blick auf die Militarisierung der europäischen Integration unter der Führung der Neuen Sozialdemokratie, die Bourdieu überhaupt nicht nennt. Eine europaweite Bewegung der „fortschrittlichen Kräfte“ (Bourdieu) wird sich mit aller Kraft den Versuchen entgegenstemmen müssen, durch die Bildung einer „schnellen Eingreiftruppe“ Europa als ein ziviles Projekt transnationaler Verständigung zu diskreditieren.

So weit, so gut. Wichtiger als die Kontroverse über die Bewertung von Einzelfragen ist die Suche nach praktischen Initiativen, die sich in Zukunft an einer solchen Bewegung beteiligen könnten. Zwei will ich hier nennen. Zum einen das „Forum Soziales Europa“, in dem sich Teile der gewerkschaftlichen Linken aus Italien, Frankreich, Spanien und Deutschland zusammengeschlossen haben. Im Mittelpunkt steht die Diskussion über eine europäische Strategie zur Überwindung der gewerkschaftlichen Einbindung in nationale Wettbewerbspakte.

Zum Zweiten ist da die Initiative „Für eine andere Politik“. In dieser arbeiten Initiativen aus Deutschland zusammen, die mit Blick auf Herkunft, politische Einzelmeinungen und gesellschaftliche Positionierung vieles unterscheidet, die aber vor allem eines mit einander verbindet: das Ziel einer grundsätzlichen Wende hin zu einer wirklichen neuen sozialen Politik. HORST SCHMITTHENNER

Der Autor ist Vorstandsmitglied der IG Metall und Mitbegründer des „Forum Soziales Europa“ sowie der Initiative „Für eine andere Politik“.