Wer baut, der bleibt

Heute muss Gerhard Schröder in das neue Kanzleramt einziehen. Es ist ein Monument des Geschichtspolitikers Helmut Kohl. Um seinen eigenen Nachruhm in Stein zu meißeln, bleibt dem Medienkanzler jetzt nur noch ein einziger Ort – der Schlossplatz

von RALPH BOLLMANN

Bloß nicht zu viel Pomp. Heute um zehn Uhr morgens tagt das Bundeskabinett zum ersten Mal im neuen Kanzleramt. Um neun, sozusagen auf dem Weg zur Arbeit, nimmt der neue Hausherr Gerhard Schröder noch schnell den Schlüssel in Empfang. Niemand soll daran zweifeln: Der pompöse Bau just an der Stelle, die einst im Zentrum der nationalsozialistischen Germania-Pläne lag, ist ganz und gar nicht nach dem Geschmack des amtierenden Kanzlers. Das Haus habe „eine Dimension angenommen“, spottet Schröder, „die dem einen oder anderen Politiker gleichsam wie auf den Leib geschneidert sein mag“.

Der Historiker Helmut Kohl wusste eben, wie man als Staatsmann im Gedächtnis bleibt: indem man baut. Der Aachener Dom erinnert an Karl den Großen, Schloss Sanssouci an Preußenkönig Friedrich, die Pyramide vor dem Louvre an Duzfreund François Mitterrand. Gut möglich, dass der linksrheinische Adenauer-Enkel Kohl vor allem deshalb für den Umzug nach Berlin votierte, weil er die Chance witterte, die ihm eine neue Hauptstadt für den Nachruhm bot. Für Bundestag und Ministerien ließ er Altbauten herrichten, den einzigen prominenten Neubau reservierte er für sich selbst.

Persönlich sorgte Kohl dafür, dass das neue Kanzleramt auch wirklich auffällt. Einem demokratischen „Band des Bundes“, wie es Architekt Axel Schultes ursprünglich plante, mochte sich Kohl nicht unterordnen. Kohl setzte durch, dass das geplante Band durch den Verzicht aufs geplante „Bürgerforum“ gekappt, der Neubau auf diese Weise isoliert und schließlich auf das Doppelte der ursprünglich geplanten Höhe aufgestockt wurde.

Kohls letztes Denkmal

Mit dem Kanzleramt hat sich der Altkanzler ein letztes Denkmal gesetzt, und mit der Eröffnung des Neubaus schließt sich der Kreis der Kohl’schen Geschichtspolitik – eines Politikfeldes, das der Historiker Kohl der traditionsarmen Bundesrepublik in den Achtzigerjahren erstmals erschloss. Die Versöhnungsgesten über den Soldatengräbern von Bitburg und Verdun gerieten zwar eher peinlich, doch mit den beiden höchst erfolgreichen Geschichtsmuseen in Bonn und Berlin triumphierte Kohl schließlich über die Gegner seiner Erinnerungspolitik. Um seinen Nachruhm zu mehren, öffnete er sogar vorzeitig die Archive des Kanzleramts – allerdings handelte es sich nur um ausgewählte Akten, und nur handverlesene Historiker durften sie einsehen.

Als die rot-grüne Bundesregierung vor zweieinhalb Jahren dieses Erbe übernahm, zeigte sie an geschichtspolitischen Fragen wenig Interesse – ja sogar an Geschichte überhaupt. Schon legendär ist die Szene, wie sich Kanzler Schröder gleich nach dem Berlin-Umzug vom örtlichen Genossen Walter Momper die Stadt zeigen ließ. Die Siegessäule, dozierte Momper, erinnere an den deutsch-französischen Krieg von 1870/71. Schröder fragte nur: „Gewonnen?“

Kanzler der Gegenwart

Wichtiger als der Platz in den Geschichtsbüchern ist dem Kanzler vorerst die Positionierung im medialen Trio „Bild, BamS, Glotze.“ Wo Kohl 1982 mit dem rückwärts gewandten Begriff einer „geistig-moralischen Wende“ operierte, hantiert Schröder seit 1998 mit einem diffusen Begriff von „Modernisierung“. Es scheint, als kenne dieser Kanzler nur eine Zeitform – die Gegenwart. Von Holzmann bis zu den Tierseuchen: Schröder reagiert auf die Herausforderungen des Tages, und auf diesem Humus gedeiht sein Macher-Image prächtig.

Das geistig-moralische Defizit war Schröder stets bewusst. Der neue Staatsminister für Kultur sollte es auffüllen. Und tatsächlich: Als Michael Naumann das Amt nach zwei kurzen Jahren an einen blassen Nachfolger abtrat, begannen sich die Konturen einer rot-grünen Geschichtspolitik abzuzeichnen. Es gab für sie keine Strategie, sie entwickelte sich, wie alles bei Rot-Grün, aus anfänglichem Chaos.

Neue Erinnerungspolitik

Naumann konnte davon profitieren, dass die lokalen Kulturpolitiker der Hauptstadt noch weit chaotischer agierten. Die Überforderung des Stadtstaates führte dazu, dass die Orte der Erinnerungspolitik Stück für Stück in die Obhut des Bundes übergingen. Unter dessen Regie entsteht jetzt in der Mitte der Hauptstadt eine Trias von Gedenkstätten – Holocaust-Mahnmal, Topographie des Terrors, Jüdisches Museum. Dass die rot-grüne Regierung auch bei der Zwangsarbeiterentschädigung die Initiative übernommen hat, rundet das Bild dieser neuen Form von Geschichtspolitik ab.

Das erstaunliche Fazit: Viel stärker als die alte Bundesrepublik findet die neue „Berliner Republik“ den historischen Bezugspunkt ihres Selbstverständnisses dort, wo die deutsche Teilung begann: im Nationalsozialismus. Weil die Deutschen – anders als die Franzosen – nicht auf eine erfolgreiche Revolution zurückblicken können, nimmt die katastrophal gescheiterte Revolution gegen die Demokratie diesen Platz ein. „Die nationalsozialistische Diktatur“, schreibt der Berliner Historiker Heinrich August Winkler, „wurde im Nachhinein zum großen argumentum e contrario für die westliche Demokratie, für die Menschen- und Bürgerrechte“.

Den Verdacht des Revisionismus musste Schröder – anders als Kohl – also nicht fürchten, als er sich vor zwei Jahren an ein geschichtspolitisches Thema ganz anderer Art heranzutasten begann. Für viele überraschend, sprach sich der Kanzler Anfang 1999 in gewohnt salopper Manier für den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses aus – „und zwar einfach, weil es schön ist“. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass die Frage irgendwann in der nächsten Wahlperiode auf Schröder zutreibt und nach einer Lösung per Machtwort verlangt. Die Expertenkommission, die das Thema derzeit berät, hat vor allem eine Funktion: Sie hält die Schlossfrage offen, bis die Zeit für jenes Machtwort reif ist. Mit anderen Worten – bis eine Mehrheitsmeinung klar erkennbar ist, die der Konsenskanzler nur noch gegen Restwiderstände durchsetzen muss.

Denn eines ist klar: So leicht man auf dem Feld der Geschichtspolitik Pflöcke einschlagen kann, so leicht kann man sich auch blamieren. Nicht nur Kohls anfängliche Fehlschläge werden dem Kanzler vor Augen stehen, sondern auch die bislang größte Pleite seines britischen Vorbilds Tony Blair. Der „Millennium Dome“ sollte den Ruhm von „New Labour“ bis weit ins neue Jahrtausend tragen. Jetzt wird er, nach wenig mehr als einem Jahr, schon wieder abgerissen.

Medienkanzler und Bauherr, das muss trotzdem kein Widerspruch sein. Letztlich ist auch die Architektur nur ein Medium neben anderen – nur eben ein besonders teures, aber dafür auch dauerhaftes. So war auch das Schloss von Versailles integraler Bestandteil der medialen Inszenierung des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV., wie der Historiker Peter Burke gezeigt hat.

Demokratisches Forum

Nachdem das Berliner Regierungsviertel bereits durch Kohl so prominent besetzt ist, kann sich Schröder nur noch an einem anderen Ort ein Denkmal setzen: auf dem Schlossplatz. Das Areal im geografischen Zentrum der Dreieinhalbmillionenstadt bietet die Gelegenheit, dem Gedenkstättenprogramm eine nach vorne gerichtete Vision anzufügen – das zu Stein geronnene Bild der „Berliner Republik“. Das demokratische „Forum“ im Schatten des Kohl’schen Kanzleramts, das Architekt Schultes jetzt einfordert, wird dafür nicht genügen.

Längst dominieren die Stimmen, die in der Mitte Berlins nach einem Ort verlangen, in dem sich Ost und West gleichermaßen wiederfinden – auch wenn das Mischungsverhältnis aus Zollernschloss, DDR-Palast und BRD-Moderne noch diffus bleibt. „Das Berliner Schloss wieder aufzubauen und den Palast der Republik darin einzuordnen“ – mit diesem Wunsch des PDS-Politikers Gregor Gysi können sich immer mehr Bundesbürger anfreunden. Es wäre auch die symbolische Verschmelzung von Ost und West, ein Thema also, das Schröder neuerdings so sehr am Herzen liegt.

Berlin ist überfordert

Dass die Entscheidung letztlich im Kanzleramt fallen wird, ist kaum noch eine Frage. Die Berliner selbst können einen wie immer gearteten Bau auf dem Schlossplatz nicht nur nicht bezahlen – sie wären damit auch konzeptionell überfordert. Die hauptstädtische Lokalpolitik beschränkte sich in den vergangenen zehn Jahren auf das Stopfen von Löchern, und mit dieser Haltung betrachten die Akteure auch die Brache im Stadtzentrum. Hätte sich ein Investor gefunden, wäre das Areal längst meistbietend an den Betreiber eines „Hotel- und Kongresszentrums“ verjubelt worden.

Ein offenes Haus auf dem Schlossplatz, durch keinerlei Regierungs- oder Parlamentsfunktionen in seiner öffentlichen Nutzung beschränkt, könnte jedoch genau jene Volksnähe verkörpern, die der Medienkanzler Schröder so gern für sich in Anspruch nimmt – und die das abgeschottete Kanzleramt des Hinterzimmermonarchen Kohl gerade nicht verkörpert. Eines steht daher schon fest: Den Spatenstich fürs Stadtschloss wird Schröder weitaus mit mehr Enthusiasmus zelebrieren als seinen heutigen Einzug ins Kohl’sche Kanzleramt.