Und der Minister lächelt

Die Leere nach dem Ende der lokalen Revolutionen: Eine blasse Uraufführung von Lutz Hübners „Ausnahmezustand“ und Ravenhills „Gestochen scharfe Polaroids“ am Deutschen Theater Göttingen

von FRANK WENGEL

Die Nornen nisten auf der gehäckselten Aktenhalde und schneiden mit ihren Scheren in die verrinnende Zeit. Am Rand der Szene näht ein spitz behütetes Feenkind unermüdlich an einem gelben Kleid, am entgegengesetzten Ende hockt ein großer weißer Affe auf seinem Hochsitz und rasselt mit den Ketten. Und gleich wird der beleibte Zirkusdirektor mit Holzpantinen und Zylinder die Menschen am Rand der Manege begrüßen, bevor eine große alte Dame ihr Märchen vom ungezogenen Mädchen erzählen darf. Man weiß nicht: Was soll es bedeuten?

Das Deutsche Theater Göttingen hatte am Wochenende einen künstlerischen „Ausnahmezustand“ proklamiert, der szenische Konsequenzen aus einer mehr als elf Jahre alten Tragödie ziehen sollte. Damals, am 17. November 1989, war die Studentin Cornelia W. auf der Flucht vor der Göttinger Polizei von einem Auto erfasst und getötet worden. Weil sich der Unfall in einem überhitzten kommunalen Klima ereignete, in dem sich Neonazis, Staatsgewalt und linke Aktivisten an drei Fronten gegenüberstanden, interpretierten Connys Freunde und Weggefährten die Hetzjagd zum Zwecke der Personalienfeststellung als Mord. Und Jürgen Trittin, damals Fraktions-Vorsitzender der Grünen im Landtag, bescheinigte der Göttinger Polizei „ein tief sitzendes Feindbild gegen Linke“.

Nun aber sitzt Castors Pollux Trittin als Premierengast in der ersten Reihe und lässt sich von der Bühne herab per Schnappschuss selbst erkennungsdienstlich behandeln. Der Minister lächelt: Grafische Manipulationsversuche sind diesmal auszuschließen. Alles nur ein Spaß, alles nur ein Spiel? Lutz Hübner, der sich durch Stücke wie „Das Herz eines Boxers“ einen Namen als Autor mit Bodenhaftung gemacht hat, erklärt seinen Text „Ausnahmezustand“ schon im Programmheft als Materialangebot. Das Thema, spricht der deutsche Dichter, vertrage weder die direkte Identifikation einer Darstellerin mit Conny W. noch eine in sich geschlossene Form. Und so löste er sich, in fortgesetztem Gespräch mit dem jungen Regisseur Heiko Senst und seiner Ausstatterin Andrea Kannapee, diesmal aus dem Gravitationsfeld der Realität, um „rückwärts im Spiegel in der Vergangenheit die Zukunft“ zu suchen.

So kann man das also auch machen: Aus der Antike borgt man sich einen Chor, dem selbst Schlag-Zeilen und Stich-Wörter wie „Rot Front verrecke!“ oder „Tote Conny, gute Conny!“ zu zischenden Zauberformeln werden. Bei den Brüdern Grimm findet man neben historischen Vorbildern für zivilen Widerstand auch das dunkle Märchen von der bösen Hand, die immer wieder aus dem Grab herauswächst. Und im Fundus der Masken und Kostüme sucht man so lange nach Versatzstücken, bis jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen nicht einmal mehr zufällig entstehen kann.

Natürlich ist dieser Versuch einer eigenen Gesetzgebung in einem Stück über autonomen Widerstand dramaturgisch gedeckt und als Slalomlauf durch ein revolutions-romantisch vermintes Gelände zeitweise sogar sehenswert. Doch da die Darsteller mit ihren verschwimmenden Positionen und Perspektiven zugleich auch das Private und das Politische mischen sollen, produziert die Inszenierung schon bald ihre eigenen Klischees. Wenn die Sahnetorte zum Synonym für den Kaffeetischkonflikt zwischen Kommunen-Tochter und Polizisten-Vater wird oder wenn die westdeutsche Herbergsmutter ihren ostdeutschen Zuzögling mit einem Mund voll Banane tröstet, dann sinkt der Erkenntniswert des rhythmisch verstolperten Abends auf Nullniveau. Und schließlich diskreditieren die Plattitüden auch jene seltenen Momente, in denen Zitate aus dem Polizeiprotokollton oder aus Betroffenheitsadressen tatsächlich Gefühle wie Zorn oder Trauer hervorrufen.

Als sich der weiße Gorilla gegen Ende gar als Vorturner für eine randalierende Affenhorde entpuppt, der ein einzelnes Mädchen mutig entgegentreten muss, vernebelt Gesinnung endgültig jeden klaren Gedanken. Da ist es denn nur folgerichtig, dass aus dem Schild der Staatsmacht schließlich noch die Schaukel für die kindliche Kriegerin wird. Verklärung statt Aufklärung und die demonstrative Verweigerung einer selbst gewählten Aufgabe markieren das Dilemma des deutschen Stadttheaters, das sich dem politischen Geschehen vor Ort zuwenden will und vergeblich nach einer geeigneten Form der ästhetischen Verhandlung sucht.

Dass es freilich auch anders gehen könnte, zeigte am selben Abend im selben Haus Oliver Schamberger mit seiner Inszenierung von Mark Ravenhills „Gestochen scharfe Polaroids“. Die Geschichte des einstigen Terroristen Nick, der nach jahrelanger Haft in eine radikal veränderte Wirklichkeit zurückkehrt und mit den schalen Spätausläufern einer Trash-Gesellschaft sowie mit den Folgen seiner Taten leben lernen muss, nennt Ross und Reiter rücksichtslos beim Namen. Wenn hier nach dem Ende des Widerstandes und dem Anfang des Einverständnisses gefragt wird, wenn ein bis zur Verzweiflung behaupteter Hedonismus auf hartnäckig ausgehaltene Ideologie trifft, dann macht dieser zugespitzte Regelfall wütender und melancholischer als jeder abgestumpfte Ausnahmezustand.