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: WLADIMIR KAMINER über deutsche Erlebnispädagogik

Befreit von allen Zwängen der kapitalistischen Konsumwelt

Die Berliner Verkehrsbetriebe hatten hatten wieder mal einen Pendelverkehr eingerichtet. Auf dem Bahnsteig der U-Bahn zog ein riesengroßer Schäferhund einen kleinen Mann an der Leine hinter sich her. Der Hund knurrte gefährlich und der Mann lächelte gequält. Die Passanten auf dem Bahnsteig machten Platz und gingen dem Paar aus dem Weg.

Plötzlich erkannte ich den Hundebesitzer: Es war mein ehemaliger Nachbar Frank – ein großer Tierfreund und engagierter Sozialpädagoge. Vor einem Jahr war er nach Sibirien gefahren, um dort in einem halb verlassenen Dorf namens „Krasnojar“ ein Zentrum für Erlebnispädagogik aufzubauen. Seitdem hatte ich ihn nicht mehr gesehen.

Frank freute sich, als er mich sah. Er war eigentlich nur schnell mal für ein paar Tage nach Berlin gekommen, um einen kleinen Neonazi abzuholen, erzählte er mir. Am nächsten Tag wollte er schon wieder zurück nach Krasnojar abdüsen. Die Erlebnispädagogik laufe dort unten besser als erwartet, das Zentrum sei immer überfüllt. Aus allen Bundesländern schicke man Jugendliche zu ihnen in die sibirische Erlebnistherapie. „Eigentlich habe ich schon die Nase gestrichen voll davon“, meinte Frank lachend. „Diejenigen, die davon am meisten profitieren, sind unsere Kollegen in Deutschland.“

Hierzulande deckt die Sozialpädagogik wie ein Netz alle Auswüchse der Gesellschaft ab: Für alles und jeden gibt es eine Extra- Einrichtung – für Drogensüchtige, kindliche Autodiebe, Jungalkoholiker, Neonazis, Babystricher, unreife Schläger, weggelaufene Waisenkinder usw. Doch wenn einer nicht in diese Klischees reinpasst: ein elternloser, drogenabhängiger Neonazi zum Beispiel oder ein gewalttätiger Stricher, der Autos klaut und Alkoholprobleme hat – „so einen will hier niemand haben: Solche Jugendliche sind auf sich selbst gestellt und landen schließlich beim Sozialamt, wo sie Angst und Schrecken unter den Sachbearbeiterinnen verbreiten. In solchen Fällen ist die Erlebnispädagogik ein wahrer Gottessegen für sie.“ Sie schicken ihre Klienten für ein Jahr nach Sibirien und genießen weiter ihre Ruhe. „Sibirien ist bestimmt eine harte Probe für die Jungs. Haben sie dort eigentlich Kontakt zu den Einheimischen?“, fragte ich Frank. Viel zu engen Kontakt sogar, meinte er. Und eine harte Probe sei es für sie auch nicht, eher das Paradies.

Dort gibt es alles umsonst: In jedem Haus wird Schnaps gebrannt, in der freien Natur wachsen Drogen aller Art – so weit das Augen reicht. Und Geld braucht man nicht. Handys und Autos gibt es nicht, man ist dort von allen Zwängen der kapitalistischen Konsumwelt befreit. Auch wenn sie so gut wie gar nichts haben, besitzen sie doch noch mehr als die Dorfbewohner. Und die Einheimischen sind ja auch alle mehr oder weniger Sozialfälle. Also fühlen sich unsere Jungs dort wohler als zu Hause.

„Und die Neonazis? Was machen sie in Sibirien?“, erkundigte ich mich. „Sie müssen doch vor Sehnsucht nach Deutschland schier verrückt werden“. Theoretisch schon, meinte Frank, praktisch aber überhaupt nicht. Statt dessen hacken sie Holz für die alten Omas im Dorf und kriegen dafür Schnaps, oder sie spielen mit den einheimischen Alkoholikern bis zum Umfallen Fußball. Manchmal prügeln sie sich auch. Die Einheimischen verspotten unsere Jungs nämlich und halten sie für dumm, weil sie aus Deutschland weggegangen und in so einem sibirischen Nest gelandet sind. Lasst uns einen Erfahrungsaustausch organisieren, sagen die Einheimischen – und schickt uns im Gegenzug nach Deutschland, wir brauchen auch eine Therapie. Eigentlich wäre das gar kein schlechte Idee, denn von den Jungs will keiner mehr hierher zurück und so wird die Bande da unten immer größer. Ich habe keinen Überblick mehr, wer wen dort eigentlich therapiert, erklärte mir Frank.

Sein Zug war angekommen, der Hund zerrte an der Leine und riss seinen Besitzer in den U-Bahnwaggon. „Bis zum nächsten Mal in Berlin“, konnte er mir gerade noch zurufen. Die Türen schlossen sich, sein Zug fuhr los – nach Norden, schon fast in Richtung Sibirien. Ich blieb auf dem sonnigen Berliner Bahnsteig zurück.