Wärmestau im Strumpf

Vom Selbstverständlichen im Umgang mit Menschen (Teil VI): Nahrung, Ausscheidung und die Humanitätsformen des Taktes

■ Niemand will Behinderten Böses. Aber wie ist es in unserer Gesellschaft wirklich bestellt um den richtigen Umgang mit Menschen, die Versorgung brauchen? Dieser Frage geht diese Serie nach. Sie handelt – durchaus streitbar – von der pflegerischen Kompetenz jenseits von Pädagogik und Integrationswut

von PETER FUCHS

Wir haben zuletzt vom Essen gesprochen und dabei markige Worte gebraucht, aber sie betrafen ja auch klare professionelle Aspekte. Gerade im Blick auf Professionalität (und hier auch im Blick auf behutsame Menschlichkeit) gibt es jedoch noch feinere Verstöße, deren Gewicht sich aus der immensen Zahl von Wiederholungen ergibt. Man isst bei uns mindestens viermal am Tag, und mindestens viermal am Tag kann es zu Wiederholungen kleiner Verletzungen kommen.

Ich beobachte, wie ein etwa achtjähriger, schwer behinderter Junge am Frühstückstisch mit Brei gefüttert wird. Wenn ihm Zeit bleibt zwischen den Löffeln, wenn sich etwa die Betreuerin zum Beispiel gerade mit einer anderen Betreuerin unterhält, greift er selbst zum Löffel, steckt ihn in den Brei und führt ihn dann zum Mund. Das alles ist reichlich ungekonnt. Der Brei befindet sich eher um den Löffel herum als in seiner Höhlung, ein Teil tropft zäh herunter auf Tisch und Pullover, die Kinngegend sieht verschmiert aus. Die Betreuerin greift blitzschnell nach dem Löffel, wischt mit einem knochenharten Serviertuch den Mund ab, dann füttert sie selbst weiter. Von mir gefragt, was das zu bedeuten habe, sagt sie: „Na, Sie sehen doch, was dabei rauskommt!“

Offenbar ist wieder eine Privatregel im Spiel. Man schlabbert und tropft nicht beim Essen herum! Außerdem gibt das ein klebriges Spektakel, bei dem die Betreuerin selbst nicht verschont bliebe. Man darf gar nicht daran denken, was geschähe, wenn der Junge auch noch husten würde. Entscheidend ist aber doch offenbar, dass er nichts Negatives getan hat, im Gegenteil: Er hat einen Ausflug in die Selbstständigkeit versucht, er hat den Löffel selbst ergriffen, er hat es geschafft, den Löffel in Richtung Mund zu führen, eine sehr schwierige Aufgabe, er hat genau das getan, was im Normalfall Ergebnis langer und komplizierter pädagogischer und motorischer Übungen ist. Wie wird er belohnt? Indem ihm die Möglichkeit zur Resignation verschafft wird. Statt vor Freude zu strahlen, statt anzufeuern, setzt die Betreuerin ihre Privatregel ein. Sie hat ihren Beruf verfehlt. Sie sollte in der Beschwerdeabteilung eines Kaufhauses die Beschwerdeführer durch Griesgrämigkeit von Beschwerden abschrecken, aber um des Himmels willen nicht in einer Einrichtung für schwerer Behinderte arbeiten.

Insofern ist die Hauptregel zur Förderung klar, man muss darüber nicht mehr diskutieren. Jeder Schritt zur Selbstständigkeit ist extrem wünschenswert. Wenn etwas nicht unterdrückt werden darf, dann ist es dieser Wille, dann ist es jeder Ansatz, der dorthin führt, wie unvollkommen er im Einzelfall sein mag. Die Kehrseite ist dann eine hohe Wachsamkeit für solche Ansätze. Hier darf nicht geschlafen werden, hier muss man sich wechselseitig informieren. Denken Sie, wenn Sie sie haben, an Ihre eigenen Kinder (oder die, die Sie gern hätten). Da begrüßen Sie doch auch jedes bisschen an Initiative, dort versuchen Sie doch auch nicht, die ersten Sitz-, die ersten Gehbemühungen zu verhindern. Würden Sie einem Kind den Löffel wegnehmen, mit dem es übt, was es später können muss, nur weil es schmiert?

Diese seltsame Beraubung lässt sich allenthalben beobachten. Es ist Nachmittag, gleich werden die Busse kommen, die die Kinder nach Hause bringen. Der Tag war lang. Da das Ende bevorsteht, entfaltet sich eine hektische Aktivität. Taschen müssen gepackt, Korrespondenzheftchen vervollständigt werden. Wenn es Herbst und Winter ist, steht allerlei Anzieharbeit an, Jacken, Mützen, Gummistiefel. Dabei geschieht es, dass einige der Kinder sich bemühen, den Arm in den Jackenärmel zu kriegen, die Gummistiefel über die Füße, die Mütze auf den Kopf, aber da dies erhebliche logistische Probleme birgt (denn dahinter stecken hochkomplizierte Bewegungsmuster), klappt das nicht so; aber es kann ja auch nicht klappen, denn da es auch die Betreuer/innen eilig haben, setzen sie die von ihnen routiniert beherrschten Anziehmuster einfach an die Stelle derer, die die Kinder gerade erproben. „Na komm, ich mach das schon!“ Und wupp, schon ist das Kind angezogen und eine Chance verspielt. Da hat man den ganzen Vormittag darauf verwandt, die Kinder an Steckbrettern und ähnlichen Geräten darin zu trainieren, wie man etwas durch etwas durchsteckt, und kaum tritt der Fall der Bewährung ein, darf es nicht selbst den Versuch machen. (Übrigens, das am Rande: Jacken, die bis zur Nasenspitze zugezogen werden, führen im Bus zum Wärmestau, wenn da keiner ist, der die Jacke wieder auszieht oder wenigstens öffnet. Das gilt auch für Mützen. Socken, die Falten werfen, sind in Gummistiefeln auch kein Vergnügen, und Gummistiefel, in denen die Füße quer stecken, sind auf anderthalbstündigen Autofahrten Folterinstrumente.)

Nun kommen die Busse. Einige Kinder müssten gar nicht hingetragen werden. Sie sind, wenn auch mühsam, mobil. Hier wäre eine Gelegenheit, diese Mobilität zu nutzen, zu loben, zu üben, aber was dann stattfindet, ist sehr oft eine Verladeaktion. Nur weg, rein in die Busse, Klappe zu, Affe tot, Durchatmen, Dienstende, ein Ende, das oft schon von Mittag an erwartet wird. Die Zeit dehnt sich dann endlos und wird zugleich verschenkt.

Ein Punkt, in dem Zeit und Gelassenheit ebenfalls von großer Bedeutung sind, findet sich darin, dass viele der Kinder (dann auch der Jugendlichen und Erwachsenen, auf die unser Interesse hier gerichtet ist) keine wesentliche Kontrolle über ihre Ausscheidungsfunktionen haben. Sie nässen und sie koten ein. (Hauptregel zur Ausscheidung: Es ist etwas anrüchig, darüber zu sprechen, aber natürlich sind die Ausscheidungsfunktionen Vitalfunktionen. Sie sind wie die Nahrungsaufnahme vielfach determiniert, und eben deshalb ist der Umgang damit von nicht zu überschätzender Bedeutung. Hier bieten sich Zuwendungs- und Taktchancen ohne Ende. Es gibt wenig Bereiche, die so deutlicher Aufmerksamkeit bedürfen, vor allem einer professionellen Aufmerksamkeit, die auch dann eingeschaltet ist, wenn die Behinderten nicht selbst ihre Körperzustände und Körperbedürfnisse signalisieren können).

Takt ist allerdings so eine Sache. Ich sehe, wie ein achtjähriges Mädchen in einem Wickelraum, in dem Durchgangsverkehr herrscht, auf den Wickeltisch gelegt wird. Es zuckt zusammen, die Wickelmatte ist kalt. „Uff!“, sagt die eine Betreuerin, „Mein lieber Herr Gesangsverein, die ist ja voll bis zum Stehkragen.“ Die andere hält sich die Nase zu. Wahr ist, dass der Kot an der Seite der Plastikwindel herausquillt, weil sie zu klein ist und auch zu eng. Wahr ist auch, dass das Mädchen, da die Betreuerinnen sich über seine Ausscheidungen unterhalten, als abwesend behandelt wird. Ich kann leicht sehen, dass die Haut schon gerötet ist wie bei einem leichten Sonnenbrand. Die eine Betreuerin nimmt eine Küchentuchrolle, hält sie unter Wasser und arbeitet dann an der Beseitigung des Gröbsten. Wäre das Mädchen vor einer Stunde gewickelt worden, hätte der Kot nicht festtrocknen können. Nun hat man wirklich Arbeit, von der geröteten Haut Krusten zu entfernen. Das Mädchen, das eine schlaffe Lähmung der Beine hat, kann nicht zappeln, aber an seinem oberen Ende weint es.

Meine Frau und ich besuchen eine Arbeitsgruppe in einer Werkstatt für Behinderte. Eine etwa vierzigjährige Frau steht auf und macht Platz für meine Frau. Die setzt sich hin und springt wieder auf. Der Stuhl ist nass, und wenn man genau hinschaut, sieht man, dass der Stuhl in einer veritablen Pfütze steht. Meine Frau wirft mir einen Blick zu, der besagt: „Ich gehe jetzt ins Auto, du kommst in drei Minuten nach, und dann fahren wir nach Hause, damit ich mich umziehen kann!“ Meine Frau beherrscht entschieden die Kunst, mit Blicken zu sprechen. Aber es ist schon zu spät: Der Betreuer bemerkt das Malheur. „Gottverdorrich!“, knurrt er, und dann spricht er mit der Verursacherin: „Was ist denn das für eine Schweinerei . . . Nun aber mal hopp. Hol dir einen Feudel und mach das weg.“

Die Frau ist knallrot. Sie weiß gar nicht, wo sie sich lassen soll. Eine Praktikantin, offenbar schon eingeübt in diese Art, Menschen zu behandeln, reißt das Fenster auf und zieht die Frau mit nach draußen. Bevor jemand auf die Idee kommt, dieser Dame überhaupt dabei zu helfen, selbst wieder trocken zu werden, sind offenbar Stuhl und Boden zu säubern, eine kuriose Vordringlichkeit, und tatsächlich kommt die Praktikantin samt Frau, Feudel und Putzeimer zurück. An dieser Stelle aber explodiert meine Frau und schert sich einen feuchten Staub um akademische Höflichkeiten. Betreuer und Praktikantin werden sich vermutlich lange Zeit daran erinnert haben.

Ein Hinweis: Takt ist als eine der raffiniertesten sozialen Formen kaum unterrichtsförmig erlernbar. Aber es genügt eigentlich, sich daran zu erinnern, was einem selbst peinlich wäre und wie dankbar man dafür ist, wenn eine Peinlichkeit sozial ignoriert und ausgeblendet wird. Wenn eine Dame die Damentoilette verlässt und den Rock aus Versehen in die Rückseite ihrer Unterhose gesteckt hat, wird man auch nicht durchs Lokal schreien „Es blitzt bei Ihnen kräftig!“; wenn ein Herr einen zentralen Reißverschluss zu schließen vergessen hat, wird er für einen diskreten Hinweis dankbar sein, kaum dafür, dass er grölend darauf aufmerksam gemacht wird, dass seine Kühe ausbrechen könnten.

Aber ebenso wichtig wie die Humanitätsform des Taktes im Umgang mit Menschen dürfte sein, dass man auf das Wohlbefinden der Körper achtet, niemanden zwei Stunden (und länger) in seinen Ausscheidungen liegen oder sitzen lässt, bloß, weil es festgelegte Wickelzeiten gibt. Um dies zu wissen, bedarf es keinerlei ausgefeilter Theorien. Es ist grottensimpel.