jazzkolumne
: In der Nachfolge der Electric-Phase von Miles Davis

Zwischen Hypnose und Wirkung

Er wollte nicht mehr, weil seine Lippen immer so schmerzten, wenn er Trompete spielte. Doch sie lachte nur. Als sie sich dann zum Abschied küssten, murmelte er noch, dass er für sie alles tun werde – das war das Letzte, was sie von ihm hörte. Miles und Shirley waren ja fast so etwas wie ein Liebespaar. So nah. Er beschützte sie, zeigte ihr, wie man sich benehmen sollte, nachts, in New York. Er riet ihr, nicht an der Bar zu sitzen, sagte ihr, welche Zigaretten nicht gut für sie sind und wie man sich von den zwielichtigen Gestalten fern hält.

Sie war in Virginia im Haus ihrer Schwiegermutter, als Miles anrief. Sie sollte ganz schnell nach New York kommen, dort seien wichtige Leute, die sie unbedingt kennen lernen müsste. Sie kam in den Big Apple, und Miles änderte ihr Leben. Das war 1960. Er bat sie darum, einige ihrer Interpretationen für seine Platte „Seven Steps To Heaven“ verwenden zu dürfen. Und sie sollte seine Konzerte im Village Vanguard eröffnen. Das letzte Mal, als sie Miles sah, war nach den gemeinsamen Aufnahmen zu ihrer Platte „You Won’t Forget Me“. Für die Sängerin und Pianistin Shirley Horn endet die große Epoche des Jazz 1969 mit dem Tod des Bassisten Paul Chambers. Ihre neue CD „You’re My Thrill“ (Verve) greift weit zurück in die Tradition in ihrer nicht enden wollenden Hommage an Miles.

In diesem Monat wäre Miles Davis 75 Jahre alt geworden, und auch neun Jahre nach seinem Tod laufen die Geschäfte bestens. Das modale Experiment, „Kind of Blue“, im Frühjahr 59 aufgenommen, wurde nicht nur zum definitiven Meisterwerk einer neuen Jazzsprache. Es ist noch heute eine der meistverkauften Jazz-CDs. Doch nicht seine Musik, sondern John Coltranes „A Love Supreme“ wurde zum musikalischen Symbol einer neuen Generation. Coltrane wurde von den jungen Schwarzen mit Afrofrisuren, Dashikis und erhobenen Fäusten ebenso gehört wie auf den Love-ins der Pazifisten und Hippies. Nach seinem Tod, 1967, so befand Davis, war die Orientierung futsch.

Miles war später woanders, ganz weit weg. Zuletzt hatte er die Motherfucker-Pose in bunten Designerklamotten kultiviert – inhaltsleer und zum Marketing-Clou verkommen. Dass ausgerechnet sein letztes Album „Doo Bop“ (1992) von dem Trompeter Lester Bowie als hippes Alterswerk bezeichnet wurde, ist allein der irritierenden Suche nach Pop und Publikum geschuldet. Knapp ein Jahrzehnt später ist von dieser Soundhalde nichts geblieben, kein Eindruck, kein Gefühl. Gerade wurde „Doo Bop“ in einer „Masters“ genannten CD-Serie von Warner Bros. wiederveröffentlicht – Miles Davis, der während der Arbeiten an diesem Album starb, wollte den Sound der Straße und verabschiedete sich mit einem gesampelten Müllhaufen, über den einige gebrochene Trompetenlinien kreisen.

Der offizielle Nachfolger von Miles, der Trompeter Wallace Roney, hält sich in seinem Plattenwerk an die Sechzigerjahre, an die Brillanz der kleinen Besetzungen vor dem Ausklang der so genannten akustischen Phase des Jazz. Denn das ist es, was Shirley Horn mit 1969 und was Miles Davis mit dem Tod Coltranes datieren – das Ende einer Soundwelt mit klassischer Instrumentierung, der Verlust der Aura des Bezugs- und Wertesystems der Jazz-Community. Doch während Roneys Platten still und leicht stur vor sich hinreifen und der Markt-Bedarf nicht wirklich geklärt scheint, reißen die Versuche jüngerer Trompeter nicht ab, an die so genannte Electric-Phase von Miles anzuknüpfen.

Der Opener „The Dawn Part I“ auf der in dieser Woche veröffentlichten Remix-Compilation von Erik Truffaz, „Revisité“ (Blue Note), klingt wie eine Mischung aus „My Funny Valentine“, Siebziger-Jahre-Miles und den schwimmenden Lounge-Riffs der Neunziger. Die Vorgabe, mit der das Mixer-Team „Mobile in Motion“ an die Sache ging, hieß, das Zeug irgendwie clubkompatibel zu kriegen. Ihre TripHop-Version vergeht so unaufdringlich, wie sie beginnt – das ist der Trick, diese optimale Mischung aus Hinhörer und Abhänger. Der französisch-schweizerische Trompeter Erik Truffaz hat in den Neunzigerjahren wiederholt versucht, seine von DJ-Sounds und Samples inspirierte Jazzversion auch live aufzuführen. Doch genau daran scheiterte sein Projekt immer wieder.

Die Idee, diese Musik den Elektronikern zum Remix vorzusetzen, macht also viel Sinn. Mit dabei ist auch einer der Hoffnungsträger des norwegischen Jazz, der Keyboarder und Soundmixer Bugge Wesseltoft. Sein Wah-Wah-Remake von „Sweet Mercy“ schleppt sich schwer und doch schwebend, so wie man es von der hippen skandinavischen Szene inzwischen kennt.

Auch die Heimat des dreißigjährigen Goran Kajfes liegt, wie schon die Coverzeichnung seines Debütalbums „Home“ (KAZA/EMI) zeigt, irgendwo zwischen dem musikalischen Elektronikaufkommen eines Miles Davis, den Wah-Wah-Sounds der Siebziger und der Instrumentalminimalistik der Achtziger. Schwere Beats, düstere Klänge und alles im Fluss, ein bisschen Hoffnung sogar, vor allem dann, wenn sein Vater, Davor Kajfes, Klavier spielt. Ein spannender Trip zwischen Hypnose und Wirkung, zwischen cool und kahl. Von den Lebenden – denn nicht nur Miles, sondern auch Don Cherry und Lester Bowie, zwei weitere wichtige Einflussgeber für den schwedischen Trompeter, sind mittlerweile verstorben – klingt Kajfes am ehesten wie sein norwegischer Kollege Nils Petter Molvaer.

Für den Trompeter Molvaer änderte sich ja vor drei Jahren das Leben, als das Münchner ECM Label sein Album „Khmer“ veröffentlichte, das binnen kürzester Zeit zum Modell einer zeitgemäßen Electric-Miles-Interpretation wurde. Molvaer und Wesseltoft sind auch auf der gerade erschienenen CD „Undertow“ (Emarcy/Universal) der Sängerin Sidsel Endresen dabei, die damit in diesem Monat auf Tour geht. Chill Out und Ambient grüßen, dazu prägt eine melancholische Grundstimmung auch ihr Produkt. Doch Molvaer zeigt auch die Grenzen der verzerrten und gesampelten Soundwelt auf. Der Reiz besteht bei ihm in der Brechung des Erwarteten. Das sind auf seiner aktuellen CD „Solid Ether“ zwei Versionen des Stückes „Merciful“, bei der er Sidsel Endresen am Klavier begleitet. Die Brechung wird vor allem durch den Wechsel zur akustischen Instrumentierung bewirkt, die Stimmung bleibt schwankend zwischen Schwermut und Trost.

CHRISTIAN BRÖCKING