Irrweg einer Moralistin

Der Sozialhistoriker Wolfgang Kraushaar über die Selbstverleugnung einer Intellektuellen – und ihr tödliches Scheitern

von WOLFGANG KRAUSHAAR

Bekannt geworden ist Ulrike Meinhof mit ihren Kolumnen in den Sechzigerjahren – insbesondere wegen ihres Sprachstils, einem pathetisch-fundamentaloppositionellen Gestus. In vielerlei Hinsicht hat sie in der Inkubationszeit der 68er-Bewegung deren Standardpositionen vorformuliert: Gegen das kulturelle Fortwirken der Adenauer-Ära, gegen den Rechtspopulismus eines Franz Josef Strauß, gegen die Unaufrichtigkeit im Umgang mit der NS-Vergangenheit, gegen das Schweigen der politischen Klasse zu den Verbrechen im Vietnamkrieg, gegen die Pressepolitik des Springer-Konzerns und gegen die Beteiligung der SPD an der Großen Koalition. Es war die Wort gewordene Antihaltung. Ihre Stimme war so ungewöhnlich, weil sie für ihre Positionen einen außerordentlichen moralischen Rigorismus beanspruchte.

Als die Revolte im Sommer 1967 ausbrach, ließ sich bereits an den Überschriften ihrer Texte erkennen, wohin die Reise gehen sollte: „Vom Protest zum Widerstand“, „Gegen-Gewalt“ und „Warenhausbrandstiftung“. Es ging Schritt für Schritt um die Entgrenzung der Gewalt. Obwohl sie das Anzünden von Kaufhäusern nicht direkt zur Nachahmung empfehlen wollte, so hob sie doch hervor, dass es darin „ein progressives Moment“ gebe. Als Anfang 1969 ihr Aufsatz „Kolumnismus“ erschien, in dem sie Konkret als eine „opportunistische Zeitung“ bezeichnete und mit den Scheinfreiheiten ihrer Rolle als Autorin abrechnete, war die Entscheidung bereits gefallen. Die Kolumnistin wollte nicht mehr länger Kommentatorin sein, sie wollte selbst Teil der Bewegung und damit zugleich Akteurin werden.

Doch erst das politische Scheitern der APO trieb Ulrike Meinhof endgültig in eine Radikalisierung, die ihr jeden Weg innerhalb des parlamentarischen Systems verbaute. Sie hielt den von Dutschke propagierten „Langen Marsch durch die Institutionen“ für opportunistisch, konformistisch, aussichtslos. Vermittlung, Konsensfindung, Interessensausgleich, all das, was zum Selbstverständnis eines demokratischen Systems gehört, war für sie ideologischer Schein, mit dem die herrschende Klasse die Verfolgung ihrer Interessen verschleiern wollte. Für sie war mit einem geradezu existenzialistischen Pathos Kampf angesagt, der bewaffnete Kampf gegen das imperialistische System insgesamt.

Die RAF war von Anfang an durch einen starken antiintellektuellen Affekt geprägt. Schon in der Gründungserklärung nach der Baader-Befreiung im Mai 1970 wurde das deutlich. In diesem Text ging es darum, sich von den Schreibtisch-Intellektuellen abzusetzen: Endlich einmal die Tat selber sprechen lassen! Diesen Affekt vermochte niemand so gut in Worte zu fassen wie Ulrike Meinhof. Als wäre es eine Selbstverständlichkeit, ließ sie in einem Spiegel-Interview den Satz fallen: „Natürlich kann geschossen werden.“ Damit hatte sie eine Grenze überschritten, hinter die es kein Zurück mehr gab.

Die im April 1971 erschienene Broschüre „Das Konzept Stadtguerilla“ ist sicher die wichtigste Schrift der RAF gewesen. Sie trägt ganz charakteristische Züge, die auf Meinhofs Autorenschaft verweisen. Die Doktrin vom „Primat der Praxis“ drückte die Verachtung gegenüber einer als „opportunistisch“ bezeichneten Intelligenz aus, die sich mit endlosen Theoriedebatten wie ein Hamster im Laufställchen bewegte. Es war das Ziel der Stadtguerilla, den Immobilismus der radikalen Linken durch bewaffnete Aktionen zu überwinden.

Das gesamte Denken und Handeln Ulrike Meinhofs ist aber ohne Auschwitz, ohne die Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis, nicht vorstellbar. Darin lag die Wurzel ihrer selbstzerstörerischen Radikalität. Politik wurde an ihrem Verhältnis zum Holocaust gemessen. Angesichts der Monstrosität des Verbrechens konnte es deshalb für sie auch keine politisch angemessenen Antworten mehr geben.

Für die 68er-Bewegung war Ulrike Meinhof zunächst ein publizistisches Sprachrohr, dann eine moralische Autorität, später die Protagonistin des bewaffneten Kampfes und schließlich eine der Wirklichkeit entrückte Ikone. Jahrelang war sie ein Faszinosum für linke Intellektuelle, die zwar ähnlich dachten wie sie, jedoch nicht bereit waren, die gleichen Schlüsse zu ziehen.

Als Person ebenso wie als historische Figur ist Ulrike Meinhof nicht aus dem Schatten eines Irrweges und eines tödlichen Scheiterns herausgekommen. Sie hat ihre Ziele unter Einsatz ihres Lebens verfolgt und sich in dem Augenblick, als kein Ausweg mehr in Sicht war, in Stammheim das Leben genommen. Am Ende schien sie sich selbst in der RAF isoliert zu haben. Sie wurde als jene diffamiert, die sie nicht mehr hatte sein wollen – als Intellektuelle.

Sie beging ihren Selbstmord, an dem manche immer noch ihre Zweifel haben, auf den Tag genau 31 Jahre nach dem Kriegsende und der Befreiung vom Nationalsozialismus. Seitdem ist darüber spekuliert worden, ob die Wahl des Zeitpunktes ihren Grund darin gehabt haben könnte, dass sie mit ihrem Tod auch ein Zeichen hatte setzen wollen. Doch worin hätte die Botschaft bestehen können? Vielleicht darin, dass ihr persönliches Scheitern, das das Scheitern der RAF insgesamt vorweggenommen hat, identisch war mit dem Fehlschlag, dass aus dem bloß historischen Ende der NS-Herrschaft nicht die notwendigen gesellschaftspolitischen Konsequenzen gezogen wurden?

Was auf jeden Fall bleibt, ist ein negatives Exemplum: An ihrem Weg lässt sich zeigen, wie das Verhältnis von Moral und Politik nicht zu bestimmen ist. Oder: Wo die Gefahren einer absoluten Moralisierung des Politischen liegen.