Einmal vor Gott stehen

Nick Cave und die Bad Seeds spielten in der ausverkauften Columbiahalle in Berlin

Oh Jesus! Das war die Speisung der 4.000. Kaum war die Nachricht durchgesickert, waren sie auch schon ausverkauft, die beiden Heimgastspiele des Nick Cave in der Columbiahalle. Im Innenraum wie das Amen in der Kirche: erwartungsfroh dampfende Massen, Zigaretten- und Haschischrauchschwaden, zum Bersten gefüllte Ränge; selbst am Abend des zweiten Berlinkonzertes platzten die computerausgedruckten Gästelisten aus allen Nähten, kosteten Tickets auf dem Schwarzmarkt bis zu 200 Mark. Ungebrochen die Sehnsucht nach dem Mann, der in den Achtzigerjahren in Westberlin ein Bohemienleben gelebt hatte und zwischenzeitlich zum Weltstar aufgestiegen war.

Leidenschaftliche Coolness war die passende Geste als Antwort auf so viel Ehrfurcht, als Nick Cave und seine siebenköpfige Band gegen 22 Uhr die weitläufige Bühne betraten: keine Worte der Begrüßung, stattdessen der stumme Griff zu den Instrumenten; das Objekt der Begierde dabei imageschuldig im schwarzen Anzug, weißen Hemd und Krawatte, und auch der Rest der großen Bande hielt sich an den vorgegebenen Dress- und Farbcode. Nur Mick Harvey auf Linksaußen, Gründungsmitglied der Bad Seeds und seit Jugendtagen mit Cave befreundet, setzte mit seinem blutroten Hemd einen Farbtupfer in das bildbestimmende Noir. „Ich trug das Hemd gestern schon, und etliche Frauen fanden es sexy, also wusch ich es und trug es heute wieder“, sprach Harvey später, umringt von Frauen, im Offizierscasino der Halle.

Die zwei Stunden Konzert, in denen Cave und The Bad Seeds inklusive zweier Zugaben 17 Songs vortragen sollten, hatten zuvor Züge einer kollektiven Entladung getragen, auch wenn die Tage speedbestäubter, kristallener Wachheit und Durchmachens bei den Bad Seeds ein für allemal vorbei zu sein scheinen. Die Wucht früherer Auftritte, in denen Nick Cave seine Jünger umzupusten pflegte wie Gott den Turm zu Babel, war nur in wenigen Momenten gegen Ende des Konzertes zu spüren, zum Zeitpunkt der ersten Zugabe etwa, als die Musiker Tim Roses Klassiker „Long Time Man“ laut, bewegend und dynamisch rockten. Dass Momente wie dieser selten waren, störte die vielen Besucher allerdings nicht im Geringsten, hatten doch nicht wenige von ihnen nach Caves Berliner Überraschungskonzert im Dezember befürchtet, dieser würde dieses Jahr, ähnlich den Aufnahmen auf seinem neuesten Album „No More Shall We Part“, eine kammermusikalische Interpretation seiner Stücke dem bekannten Sound vorziehen. Was aber nicht geschah.

Ungeachtet der Jugenderinnerungen seiner Fans, spielte der gläubige Sänger mit „The Mercy Seat“ allerdings nur einen Song, der vor 1990 entstanden war. Stattdessen setzte er auf ein Programm mit Gassenhauern seiner Erfolgsalben aus den Neunzigern und integrierte gleich sechs Songs aus seinem neuen. Bei „We Came Along This Road“, einer Ballade über einen Mann, der seine Frau und den Liebhaber seiner Frau erschossen hat und sich wehmütig der zuvor unschuldigen Liebe erinnert, saß Cave erstmals selbst am Flügel, und erstmals musste der Sänger ein weißes Handtuch bemühen, um sich Schweiß, Staub und Tränen aus dem Gesicht zu wischen.

Auch wenn der Show die rohe Körperlichkeit früherer Nächte abging, litt sie doch nicht unter dem Problem, das Konzerte der Bad Seeds mitunter belastet hatte, seitdem sie Mitte der Neunziger vom Quartett zur vielköpfigen Bigband angewachsen waren. Dank gestraffterer Arrangements spielten nicht alle Musiker gleichzeitig, am besten zu bemerken bei Violinist Warren Ellis, der effektvoll, den Rücken zum Publikum gewandt, etwa in „God Is In The House“, seinen Bogen wie einen Propeller über seinem Kopf rotieren ließ, bevor er pointiert geigte, statt mit seinem Instrument jede Gesangslinie Caves nachzujaulen.

Mitten im Konzert, die Bad Seeds spielten eine besonders beseelte Version von „Papa Won’t Leave You, Henry“, tippte eine neben mir stehende junge Frau im Trikot des AS Roma glücksglühend die Worte „Ich stehe vor Gott: Nick Cave“ in Ihr Mobiltelefon. Der Beschriebene selbst entledigte sich zu diesem Zeitpunkt seines Binders und Sakkos und zündete sich eine Zigarette an. Das war kurz vor der ersten Zugabe, dem Song „Henry Lee“ von dem Hitalbum „Murder Ballads“. Noch eine weitere Mörderballade sollte die Band spielen, arrangiert als Shuffle, als letzte Zugabe. Ein Gast aus dem Publikum wurde dabei gebeten, das Textblatt zu halten, während Cave den schier endlosen Song „The Course Of Millhaven“ sang. Der junge Mann stand da wie ein Messdiener, reglos und gottesfürchtig. Erst die letzten Zeilen musste der so Geliebte nicht mehr ablesen, er kannte sie auswendig. Caves Worte zum Samstag lauteten: „All God’s children they have to die“. Auch eine Art „Auf Wiedersehen“ zu wünschen.

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