Der üble Verrat der Speckröllchen

Diese Saison wollte Jan Ullrich eigentlich professioneller angehen, richtig gelungen scheint ihm dies bisher jedoch kaum. Nun will sich der deutsche Rad-Heroe ausgerechnet beim Giro d’Italia in Toursieg-Form bringen

BERLIN taz ■ Zwei Mal, 1996 und 1998, hatte Jan Ullrich die Tour de France nicht gewonnen, 1999 war er gar nicht erst angetreten. Nun, im Januar 2000, schickte er sich an, seinen zweiten Platz ein drittes Mal zu wiederholen: Übergewichtig und Grippe-infiziert stellte sich Ullrich im Trainingslager in Mallorca der Presse. Wie er denn die Streckenführung der Tour 2000 einschätze, wurde Ullrich gefragt. Damit habe er sich noch gar nicht auseinandergesetzt, antwortete der populärste deutsche Nicht-Fußballer seit Boris Becker. Offensichtlich hatte er ganz andere Probleme.

Derweil residierte Lance Armstrong in Nizza, unweit der entscheidenden Tour-Pässe in Alpen und Pyrenäen. An der milden Côte d’Azur rollte er sich in Form, bis die Bergpässe frei von Schnee waren und er sie, wie schon im Vorjahr bei seinem ersten Tour-Sieg, Meter für Meter abfahren konnte, um im Juli keine Überraschungen erleben zu müssen. Die blieben ihm bei der Tour dann auch tatsächlich erspart: Schon nach der ersten entscheidenden Bergetappe und dem ersten Angriff von Armstrong fügte sich Ullrich in sein Schicksal. Keine Chance habe er gegen diesen Armstrong, ließ er wissen, und beschied sich im Weiteren damit, wieder einmal seinen zweiten Rang zu verteidigen. Nachdem er diesen erreicht hatte, gelobte der wegen solcher „Wurschtigkeit“ in die Kritik geratene Merdinger, die nächste Saison „professioneller“ angehen zu wollen – und tröstete zum Abschluss des Jahres seine Fans noch mit einem Olympiasieg.

Auch danach schien Ullrich Wort halten zu wollen: Schon im November reiste er, Zeichen neu gewonnener Professionalität, zum Training nach Südafrika, auch um der Versuchung allzu üppiger Festtagstafeln in der Weihnachtszeit zu entgehen. Doch kaum ging die Saison wieder richtig los, hörte man aus dem Lager Ullrichs Altbekanntes: Gewichtsprobleme, Infektionen, schlechte Form, Aufgaben bei verschiedenen Vorbereitungsrennen. Und dazu die Beschwichtigungen, dass das alles normal sei, er im Plan liege und schließlich erst im Juli abgerechnet werde, bei der Tour 2001.

Die nur noch knappe Zeit bis zu deren Start Anfang Juli will Ullrich nun mit seiner Teilnahme an der Italienrundfahrt verdichten, die am Sonntag beginnt. Seine Ambitionen hat der Mann von der Telekom allerdings schon im Vorfeld auf ein Minimum heruntergedimmt: Ullrich will das Rennen nur zum Training fahren, zum Abnehmen gewissermassen. Den Giro derart demonstrativ gering zu schätzen, birgt freilich auch Gefahren – und dürfte Ullrich nicht viele Freunde in Italien bescheren. Andererseits würde das nur zu gut ins allgemeine Bild der Ullrich’schen Wurschtigkeit passen, und zu jener Dickhäutigkeit, die er sich gegenüber jedweder Form von außen an ihn herangetragener Erwartungen zugelegt hat. Und die in gewisser Weise verständlich ist, wenn man beobachtet, wie seit Ullrichs Tour-Sieg im Post-Becker’schen deutschen Heldenvakuum jedes Hüsteln zum Zeichen drohenden nationalen Unheils geworden ist.

Vor noch gar nicht all zu langer Zeit hat Ullrich gegenüber der Welt am Sonntag bekannt gegeben, dass er sich in seiner zweiten Karrierehälfte befinde und das Ende mithin schon am Horizont erkennbar sei. Dazu passend gab er jüngst ein Buch über seine Lieblingsradtouren im Schwarzwald heraus. Zum Nachfahren für Jedermann, mit Tipps zum Einkehren unterwegs. Hauptkonkurrent Armstrong würde wohl kaum auf die Idee kommen, seinen Fans seine Trainingsrunden zum Nachfahren zu empfehlen. 31 Jahre alt ist Armstrong, vier Jahre älter als Ullrich. Seine Buchpublikation, die Geschichte seiner Wandlung vom Krebskranken zum Tour-Sieger, ist ein Bestseller, Ullrichs Radtouren nehmen sich dagegen eher provinziell aus.

Wie Armstrong auch sportlich eher in größeren Kategorien denkt. Sein Hunger nach Erfolg ist auch nach zwei Tour-Siegen noch lange nicht gestillt. Und über zu hohe Belastungen in jungem Alter, die Ullrich bisweilen als Grund für seine Müdigkeit vorschiebt, klagt er auch nicht. Dabei war Armstrong schon mit 16 amerikanischer Meister im Triathlon, mit 22 Weltmeister der Straßenradprofis, von der Belastung der Krebserkrankung ganz zu Schweigen.

Genau wie Ullrich hat Armstrong im Frühjahr mitunter Form- und Gewichtsprobleme; und wie alle Tour-Spezialisten baut auch er seine Leistungsfähigkeit langsam und behutsam auf. Darüber, dass Armstrong bis zur Tour nicht in Siegform sein könnte, entsteht jedoch weder in der amerikanischen noch in der internationalen Presse die geringste Sorge. So liegt die Vermutung nahe, dass der Deutschen Zweifel an Ullrich vor allem Zweifel an seinem Antrieb sind. Armstrong hat Ullrich schon des öfteren als „den talentiertesten Fahrer“ bezeichnet. Der sich jedoch immer wieder dem motiviertesten beugen muss. Kein Wunder, dass der deutsche Fan in jedem Ullrich’schen Speckröllchen Verrat wittert.

SEBASTIAN MOLL